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Lebenswasser (Joh 4,1-26)


Predigt von Prof. Dr. Daniel Cyranka zum Semestereröffnungsgottesdienst am 2. April 2024

Liebe Gemeinde,

wenn ich so nicht weiterleben kann, dann lebe ich anders weiter. Wer sich das sagen kann, ist durch die Krise zwar noch nicht durch, aber nicht mehr völlig von den Lebensumständen gefangen.
Das Leben, so wie es gerade läuft oder eben nicht läuft, kann uns gefangen nehmen: In einer Partnerschaft oder in der Familie, in der sich etwas Lähmendes, etwas Besitz Ergreifendes oder gefangen Nehmendes ausbreitet. Im Studium oder in der Arbeit, die mich so einnehmen können, dass keine Begeisterung mehr für Andere und Anderes bleibt. Es kann auch sein, dass mir Arbeit und Studium so wenig Begeisterung entlocken, dass alles stickig wird, und mir keine Luft zum Atmen bleibt.
Aber — Eines weiß ich: Ich kann auch anders. Wenn ich so nicht weiterleben kann, wenn wir so nicht weiterleben können, dann leben wir anders weiter.
Anders leben können. Das ist heute meine Osterbotschaft. Anders leben und keine Angst davor haben. Keine Angst vor Verlust oder Veränderung. Ich kann anders leben. Wir können anders leben.
Der am Karfreitag Gekreuzigte sagt: Ich lebe und ihr sollt auch leben. Wir nennen ihn den Auferstandenen. Ich lebe und ihr sollt auch leben. Es ging so nicht weiter. Es ging undgeht anders weiter. Ich lebe und ihr sollt auch leben. Keine Angst!

Es ist Ostern. Es ist Frühling. Und ein neues Semester beginnt. Heute feiern wir das und in der Predigt bedenken wir das.
Das Thema, das uns für heute aufgegeben wurde, heißt: Lebenswasser. Der Text dazu hat 26 verschlungene Verse und steht im vierten Kapitel des Johannesevangeliums. Er wurde vorhin gelesen.
Es ist ein hoch aufgeladener Text, voller Strukturen, Anspielungen und Verflechtungen. Man kann die ganze Komposition des Johannesevangeliums daran ablesen.
Die Erwartungen an diesen Text und an eine auf ihn bezogene Predigt sind total verschieden. Da bin ich mir sicher. Für eine Predigt ist der Text außerdem sehr lang, wir haben das mindestens noch im Ohr. Ich versuche jetzt einmal, mit Ihnen dem Text im Groben zu folgen. Das ist jetzt vielleicht anstrengend, obwohl ich vieles weglasse. Es ist aber vielleicht auch hörenswert.

Mit seiner Ortsangabe Sychar und dem Jakobsbrunnen spielt der Text zum Beispiel auf eine alte Geschichte an, die kompliziert und strittig ist. Das erzählte Treffen findet an einem Ort statt, der auch heute kompliziert und strittig ist, in militärisch umkämpftem Gebiet mit mehreren Namen. Darüber ließe sich lange reden.

Der Text kann theologisch gepusht werden, gepimpt geradezu, besonders wenn man heutige Vorstellungen in ihn hineinträgt. Er kann dafür eingesetzt werden, heute gängige Vorstellungen von Religionen und Nationen, von Völkern, Sprachen, Ethnien oder Staaten zu füttern. Er kann vereinseitigt und vereinnahmt werden als ein Text, mit dem man immer recht hat. Und das Recht-Haben und das Bestreiten stehen gerade hoch im Kurs.
Es gibt viele Arten, diesen mehrfach aufgeladenen Text zu hören oder zu lesen.
Der Text kann gehört werden als eine etwas verworrene Segensgeschichte, bei der Segen mit Recht bekommen, Besitz bekommen oder Recht haben gedeutet werden kann. So wird Segen vom Geschenk Gottes zum menschlichen Argument.
Der Text kann auch gelesen und gehört werden als Einschreibung der Jesusfigur in die Christusgestalt und in die Messiasvorstellung, versehen mit Prophetie, die wie eine Art Hellseherei vorgestellt wird. Die Jesusgestalt weiß alles über eine Frau, die im falschen Land lebt und noch nicht einmal einen Namen hat.
Und der Text kann als Theologie gelesen werden. Theologie steht dann für Gottesweisheitoder für die Lehre von Gott. Also: Wer oder was ist Gott?
Der Text kann auch als eine Erhöhungs- oder eine Überhöhungstheologie gelesen werden: Jesus als der Christus als der Prophet und der Messias, der von Gott als Pneuma, als Geist spricht. Gott ist Pneuma, Gott ist Geist.

Wenn man den Text so in der Osterwoche liest, dann wäre Ostern das Fest der unbegreiflichen Erhöhung und Überhöhung: Höher als alle unsere menschliche Vernunft geht es hinaus. Das klingt irgendwie theoretisch und gleichzeitig irgendwie übertheoretisch und unbegreiflich – jedenfalls höher als unsere Vernunft.
Das, was über die Vernunft hinausgeht, kann man aber nicht vernünftig erklären, sondern nur erzählen oder feiern oder erleben. In Bildern und in Riten. In Offenheit für das, was dabei mit uns passiert auf so einem Fest. Und was uns ohne dieses Fest eben nicht passiert.

Für mich ist Ostern immer wieder das Fest des Sonnenaufgangs, des Ostermorgens nach der Totenstille: Ostermorgen, Vogelgezwitscher, wärmendes Osterfeuer von vorn und erste wärmenden Sonnenstrahlen von oben, der Duft von Osterbrot. Ein Osterlied.Ostern ist ein Fest, das nicht von Erklärungen, sondern von Erzählungen, Riten und Liedern lebt. Ostern ist ein Fest, das gefeiert werden will. Ostern macht das Leben anders. Ostern heißt für mich: Wenn ich so nicht weiterleben kann, dann lebe ich anders weiter. In diesen Osterdienstag hinein sollen wir nun auf das Thema Lebenswasser kommen, denn so ist der lange Text aus dem Johannesevangelium in der neuen Semesterreihe überschrieben.
Lebenswasser — Eau de Vie. Ist das der Osterschnaps nach der Fastenzeit, der zum fröhlichen Frühling passt wie die Farben und das Essen?
Eau de Vie — Lebenswasser. Wenn es gut geht, trinkt man einen Schnaps um etwas zu vertreiben oder um die Lebensgeister zu wecken. Oder nach einem Schreck: „Jetzt brauche ich erst einmal einen Schnaps“, sagt man zum Beispiel im Norden Deutschlands nach einer schlechten Nachricht. Woanders vielleicht auch.
In unserem Text geht es aber nicht — jedenfalls nicht direkt — um Osterschnaps, sondern es geht zunächst um Brunnenwasser, dann um das Wasser des Lebens und schließlich um Gott. Das sind drei Stufen den Theologischen Turm hinauf.

Was wird erzählt? Ich versuche es, kurz zu machen.

Der erfolgreiche Jesus muss durch einen Landstrich ziehen, der von den Anderen bewohnt wird — Samarien. Wie gesagt: In Samarien leben die Anderen, die Samarier. Die Anderen sind anders. In unserer Nachbarschaft leben auch viele, die wir die Anderen nennen: die woanders herkommen, anders reden, sich anders kleiden und anders kochen. Anders Ostern feiern. Oder gar nicht. Das ist irgendwie auch interessant — aber vor allem: anders.
Kein Wunder, dass die Frau, die er an dem bekannten Jakobsbrunnen trifft, von dort ist. Auch kein Wunder, dass sie sich selbst als eine von den Anderen vorstellt. Es ist mittags um 12 Uhr, vermutlich ist es heiß um diese Stunde - high noon. Ein Brunnenist jetzt ein guter Platz.

Dos moi pein (δός μοι πεῖν) sagt Jesus zu der unbenamten Frau, gib mir zu trinken. Begrüßungen oder Höflichkeiten enthält der Text nicht. Aber die Frau wundert sich über die Grenzüberschreitung, denn eigentlich haben die ‚Juden‘ genannten Leute keine Gemeinschaft mit denen, die sich ‚Samariter‘ nennen. Das ist eine alte Geschichte — die Einen und die Anderen.
Jesus dreht das Brunnengespräch um. Wenn du mich erkennen würdest, dann würdest du dich noch mehr wundern und mich um etwas bitten. Die Eine und der ganz Andere könnte man sagen.
Dos moi pein (δός μοι πεῖν) sagt Jesus, gib mir zu trinken. Und er sagt, wenn Du wüsstest, wer ich bin, würdest Du mich nach dem Wasser des Lebens fragen, mit dem man keinen Durst mehr hat. Sehr geheimnisvoll wirkt das.
Doch die reagiert einfach, als wäre alles klar, mit denselben knappen Worten dos moi — gib mir. Gib mir dieses Wasser (δός μοι τοῦτο τὸ ὕδωρ). Sie will nicht mehr zu demBrunnen gehen müssen. Was ist das für ein Wasser?
Jesus will Brunnenwasser und redet dabei aber über Wasser zum ewigen Leben (τὸ ὕδωρ εἰς ζωὴν αἰώνιον). Dieser Christus-Jesus wird nun auch noch prophetisch. Und die Frau scheint etwas zu sehen, was sie vorher nicht gesehen hat. Ob der Jude Jesus von der Samariterin nun Brunnenwasser bekommt oder nicht, wird gar nicht mehr erzählt.
Es ist heiß, aber der Text geht auch ohne das Brunnenwasser weiter. Die Frau erkennt in Jesus einen Propheten, der wie ein Hellseher, ihre Lebensumstände beschämend klar benennt: fünf Männer hast Du gehabt und dein jetziger ist nicht dein richtiger Mann. Das sitzt.

Liebe Gemeinde, wo sind wir gerade? Wovon ist hier zu reden? Wir sind in einer Erzählung, in der der erfolgreiche Jesus von den sogenannten Pharisäern kritisch gesehen wird, weil viele sich taufen lassen. Er reist durch ein benachbartes und getrenntes Land. In diesem Land trifft er eine unbenamte einheimische Frau. Das Gespräch, das die beiden miteinander führen, geht auf wundersame Weise aneinander vorbei und schraubt sich dabei immer höher, vom Brunnenwasser über Lebenswasser zu Gott.
Jesus redet mit der Frau über seinen Durst, über das Lebenswasser, das jeden Durst erlöschen lässt und über das wahre und das falsche Anbeten, das zwischen Juden und Samaritern, zwischen dem Berg Garizim und Jerusalem aufgeteilt wird. Schicht auf Schicht legt dieser Text übereinander. Das Gespräch geht immer weiter und die beiden scheinen immer weiter aneinander vorbei zu reden. Der Theologische Turm wird immer höher.
Als sei das Reden über Brunnenwasser, über Durst stillen und wieder Durst bekommen nicht schon verwickelt und kompliziert genug. Das Wasser, das ich geben werde, wird selbst eine Quelle werden, eine Quelle des Wassers, das in das ewige Leben quillt. Das muss man erst einmal verstehen. Wasser, Brunnen, Land, verschiedene Arten zu leben und anzubeten. Gemeinschaft beziehungsweise Nicht-Gemeinschaft mit den Anderen.
Wenn man diesen Text mit heutigem Verständnis liest, dann wird es noch schwieriger. Man liest heutige Vorstellungen und Verwicklungen hinein, in denen Ausdrücke wie Juden, Israel, Hebräisch, Iwrit, Volk, Staat, Land, Staatsbürgerschaft, Religion etc. völlig durcheinandergehen. Man streitet sich darüber. Und ein Satz wie dieser: Das Heil kommt von den Juden wird zu vielen Sätzen, zu vielen auch widersprüchlichen Sätzen. Ich lasse es bei dieser Andeutung und folge weiter dem Text.
Denn der Text legt noch eine weitere Schicht darauf, noch eine Ebene, noch eine Sentenz, die nicht erst seit Lessing immer und immer wieder zitiert wird.
Es geht um Geist und um Wahrheit. Höher hinaus kann man kaum, abstrakter kann es kaum werden. Es geht um Beten oder Anbeten, nicht hier oder dort und in diese oder jene Richtung oder mit diesen oder jenen Riten oder Riemen. Es geht um Beten oder Anbeten im Geist und in der Wahrheit.
Jesus redet am Brunnen über zwei Arten von Wasser. Und er redet über zwei Arten von Kultur, Ritus oder Anbetungsform.
Beides lässt er aber auf der nächsten Textebene wiederum zurück. Denn auch darum geht es wohl nicht. Das Andere, das Trennende, ist sozusagen weg.
Worum geht es dann, wenn es nicht um Formen, Kultur, Liturgie oder Gewohnheiten geht, die sich ja offensichtlich unterscheiden? Es geht um Beten oder Anbeten in Geist und in Wahrheit. Richtiges, wahres oder wahrhaftiges Anbeten hat offenbar eine andere Dimension.
Worum geht es, wenn es nicht um Formen, Kultur, Liturgie oder Gewohnheiten geht, die sich unterscheiden?
Es geht um Gott. Es geht um Gott, von dem gesagt wird, dass er Leute suche, die im Geist und in der Wahrheit anbeten. Okay. Verstanden.
Gott ist Geist und die ihn anbeten, müssen ihn in Geist und Wahrheit anbeten. Nicht auf Hebräisch oder Deutsch, nicht mit Utensilien oder besonderen Kleidern.
Es ist denen, die Gott anbeten, nötig, ihn in Geist und Wahrheit anzubeten. Warum? Wieder wird noch eine Ebene im Text draufgelegt: Gott ist Geist oder Geist ist Gott — πνεῦμα ὁ θεός.
Der Dialog am Brunnen geht vom Durst aus und macht mit den kulturellen Unterschieden weiter, über die man gern und meist rechthaberisch streitet. Am Ende wird klar, dass diese Unterschiede Gott gar nicht wirklich berühren und diejenigen, die eine Gottesbeziehung haben, auch nicht.
Denn in Geist und Wahrheit zu sein, in Geist und Wahrheit anzubeten, das ist eher eine Dimension als eine kulturelle Form. Gott ist Geist, sagt der Jesus am Brunnen und verbreitet damit steile johanneische Theologie.

Wie reagiert die unbenamte Frau? Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.
Der Textausschnitt gipfelt darin, dass die Jesusgestalt sich als Messias und als Christus zu erkennen gibt. Davon wird die Frau im Anschluss (V. 27ff.) erzählen. Und das bedeutet für mich, dass die unbenamte Frau im anderen Land und mit anderer Kultur die Spitze der hier vorgeführten Erkenntnispyramide erreicht hat. Der Messias Christus Jesus spricht mit ihr über Wasser, das selbst zum Quell für Wasser wird und in die Ewigkeit, zum ewigen Leben verhilft. Er spricht mit ihr über Gott-Geist, der in Geist und Wahrheit angebetet werden muss. Dei (δεῖ) heißt, es ist notwendig, nötig, es wird gebraucht oder eben man muss.

Man könnte auch sagen, Gott sucht Leute, die ein Verhältnis zu ihm haben, die ihn anbeten. Da er Geist ist, muss man ihn in Geist und Wahrheit anbeten. Davon wird der Christus-Messias reden, sagt die unbenamte Frau. Und Jesus sagt: Ich bin’s, der mit dir redet. Wir haben damit die Spitze der Perikope erreicht. Der hier redende Jesus bindet die höchste Schicht des Theologischen Turms an sich selbst zurück. Der Messias steht im anderen Land am Brunnen und spricht mit der unbenamten Frau, der er sich zu erkennen gibt. Sie wird in die Stadt gehen und davon erzählen, erfährt man, wenn man weiterliest.

Welche Mühe haben wir uns mit diesem Text gegeben. Wie anstrengend war das denn? Und was haben wir davon?

Vielleicht dieses: Lebenswasser quillt manchmal da, wo ich es nicht erwarte, bei den Anderen. Die Anderen, die nicht meine Kultur, Sprache, Religion oder Liturgie haben, werden angesprochen und erkennen den Messias.
In Geist und Wahrheit ist vieles möglich, nicht nur mir und uns, sondern allen Anderen auch. Auch im Nachbarland, mit dem es vielleicht ein schwieriges Verhältnis ist. Auch mit Nachbarn, die wir für Fremde halten, für die Anderen. Auch für die unbenamte Frau. Auch für alle, die in dieser Geschichte gar nicht erwähnt werden: Kinder, Junge, Alte.
Ostern ist für alle da. Mit Brunnenwasser, mit dem Wasser des ewigen Lebens wie in der Taufe und mit Gottes Geist.
Denn Gott ist Geist, der weht, wo er will. Gott ist erlebbar. In verschiedenen Liturgien und kulturellen Formen. Drinnen oder draußen. In verschiedenen Osterbräuchen und Osterzeiten. In Geist und Wahrheit. An dieser Universität und in dieser Region. Und weitdarüber hinaus.

Wir können auch anders. Wir können mit Ostern anders weiterleben. Keine Angst! Amen.

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