Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Ganze Liebe (Matthäus 22,34-40


Predigt von Dr. Laura Krannich im Universitätsgottesdienst am 7. Januar 2024

Wir sitzen im Zug von Jerusalem nach Tel Aviv, im Sommer, noch vor den Ereignissen des 7. Oktobers. Am frühen Nachmittag geht der Flieger zurück nach Deutschland und weil man nie weiß, wie lange es dauert bei der Sicherheitskontrolle, haben wir uns früh auf den Weg gemacht. So früh, dass wir Zeuginnen eines, zumindest für uns, besonderen Ereignisses werden. Ohne es zu merken, sind wir in einem Abschnitt des Zugs, in dem sich überwiegend orthodoxe jüdische Männer aufhalten. Als der Zug sich in Bewegung setzt, holen sie nach und nach durchsichtige Kleidersäcke heraus, in denen sie die Utensilien für ihre religiöse Praxis mit sich führen. Dann beginnen sie, sich auf das Morgengebet vorzubereiten, jeder in seinem Rhythmus. Sie legen den Tallit um und binden sie die Tefillin an Stirn und Oberarm, die damit verbundenen Lederriemen wickeln sie um Arm, Hand und Finger. Dabei befolgen sie eine feste, mir unbekannte Choreographie, wenden sich in diese und jene Richtung, beugen die Häupter und legen mit geübten Händen den Stoff in Form. Nach der Vorbereitung beginnen sie mit den festgelegten Gebeten und den Lesungen. Die Stimmen brummen und summen, rhythmisch, in sich überlagernden Wellen, ich schnappe hier und dort einzelne Vokabeln auf, die ich verstehe. Die zu den Stimmen gehörenden Körper wippen, stehen auf, setzen sich wieder, legen die Hand vor die Augen, halten kleine Bücher und Smartphones in den Händen, von denen sie ablesen. Es ist geschäftig, was ich erlebe. Ein ganzes Abteil voller Menschen, die religiöse Arbeit verrichten. Für mich beeindruckend. Für sie: Alltag. Denn sie alle tun dies Morgen für Morgen. Wo sie auch sind.

Ein zentraler Bestandteil des jüdischen Morgengebets ist das Schma Jisrael, das Jesus im Predigttext zitiert, als er nach dem höchsten Gebot gefragt wird:

Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft (Dtn 6,4–5).

Im Hebräischkurs mussten wir das damals auswendig lernen. Auswendiglernen ist eine Technik, Worte tief ins Gedächtnis und nah ans Herz zu bringen. Und genau darum geht es, denn auf das Schma Jisrael folgt im Buch Deuteronomium die Aufforderung: Diese Worte, gemeint sind die Gebote Gottes, sollen Dein Herz bestimmen und Du sollst sie Deinen Kindern beibringen, und sie sollen Dein tägliches Leben prägen, wenn Du aufstehst, wenn Du Dich niederlegst. Sie sollen als Zeichen auf Deiner Hand und zwischen Deinen Augen sein und am Türpfosten Deines Hauses.

Du sollst Gott lieben mit Deinem ganzen Herzen und Deiner ganzen Seele und Deiner ganzen Kraft.

Diese Forderung geht zurück auf ein zentrales Motiv neuassyrischer Loyalitätseide und Vertragsschlüsse. Im altorientalischen Vertragsrecht bezeichnet »Liebe« politische Loyalität. Im Deuteronomium wird diese Kategorie nun auf Adonaj übertragen: Ihm, dem einen Gott, soll ungeteilte Loyalität, ungeteilte Liebe zukommen.

Also: ganze Loyalität. Ganze Liebe.

Drei Begriffe beschreiben dieses Ganze: Herz, Seele, Kraft. Drei Perspektiven oder auch drei Versuche, den ganzen Menschen auszudrücken. Drei ohnehin komplexe Begriffe, denen man viel Aufmerksamkeit widmen könnte. Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass wir uns in drei Sprachen zugleich bewegen: dem Hebräischen der Tora, in der sich das Gebot ursprünglich findet, der griechischen Übersetzung im neutestamentlichen Text und der deutschen Übersetzung. Drei Sprachen, drei weit auseinanderliegende Zeiten und Räume mit eigenen Fassungen der Ganzheitsbegriffe.

Im Hebräischen lese ich: Du sollst Adonaj, deinen Gott, lieben

  • בְּכָל-לְבָֽבְךָ (bechol-lewawecha), mit deinem ganzen Herzen. Das ist nicht so romantisch,wie es für unsere Ohren klingt. Das Herz nicht nur Sitz der Gefühle, sondern vereint nachbiblischem Verständnis Verstand und Emotion. Es ist der Personenkern des Menschen.
  • בְּכָל-נַפְשְׁךָ (bechol-nafschecha), mit deiner ganzen Seele. Nefesch, die Kehle, der Atem, das Leben. In der Septuaginta steht: psychē. Der Alttestamentler Eckardt Otto übersetzt: Seelenstärke.1 Und sagt: Zusammen drücken leb und nefesch die Gottesliebe mit allenSinnen und aller emotionaler und intellektueller Kraft aus, mit dem psychischenVermögen und dem physischen, der Lebenskraft.
  • בְּכָל-מְאדֶֹֽךָ (bechol-me’odecha), mit deiner ganzen Kraft. Me’od, eine Bekräftigungsformel, die die beiden vorangegangenen Begriffe verstärkt, intensiviert. Irreführenderweise nutzt Matthäus nicht dynamis, Kraft (Septuaginta), sondern dianoia, Verstand. So rückt in Matthäus’ Textfassung der Verstand an den Schluss der Aufzählung.

Du sollst Adonaj, deinen Gott, lieben mit Deinem ganzen Herzen und Deiner ganzen Seele, Deiner Seelenkraft, Deinem Leben und Deinem ganzen Verstand, Deiner ganzen Kraft.
Es ist gar nicht so einfach, den Menschen erschöpfend zu beschreiben. Jede Zeit versucht es auf ihre Weise. Klar ist: es geht darum, den Menschen als ganzen zu fassen, in allen Fassungen des Gebots – im 5. Buch Mose in seiner hebräischen und griechischen Fassung und auch bei Matthäus. Alles im Menschen soll im Dienst der Liebe stehen. Liebe soll das ganze Menschsein durchdringen und bestimmen.

Und obwohl damit schon so vieles gesagt ist, fehlt noch etwas: das zweite Gebot, das Jesus stark macht. Zur Gottesliebe gesellt sich das zentrale Gebot aus dem Heiligkeitsgesetz: Du sollst Deine Nächste lieben, wie dich selbst (Lev 19,18).

Noch ein Versuch über die Gesamtheit des menschlichen Seins.
Du sollst Gott lieben. Du sollst den Nächsten lieben. Du sollst Dich lieben.
Liebe in allen menschlichen Beziehungsdimensionen.
Coram Deo, coram mundo, coram seipso (Gerhard Ebeling).
Angesichts Gottes, angesichts der Welt, angesichts Deiner selbst gibt es ein Gebot, mit dem alles gesagt ist: Liebe! – ganz, alle, alles.

»all about love« – »Alles über die Liebe« heißt das vermutliche bekannteste Werk der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin bell hooks, das sie aus einer Haltung der Sehnsucht schreibt.2 Von Kindheit an weiß sie: Ein Leben ohne Liebe ist nicht lebenswert. Es war für sie vor allem die Abwesenheit von Liebe, die ihr die Liebe zum Lebensthema machte und sie Liebe suchen ließ – in einer Welt, die von der Liebe, der wahren und wirklichen Liebe, nicht viel wissen zu wollen schien. In dieser Diagnose trifft sich bell hooks mit dem Psychoanalytiker Erich Fromm. In »Die Kunst des Liebens« schreibt Fromm, nur wenige Menschen verfügten über die Fähigkeiten und die Bereitschaft, wirklich zu lieben.3

Ist das Pessimismus oder sind das Diagnosen aus einer anderen Zeit? Schließlich wird kaum ein anderes Thema so besungen und verfilmt und sonstig bearbeitet wie die Liebe, vor allem die romantische. In den weltweit erfolgreichen Harry Potter Büchern ist sie der mächtigste aller Zauber. Auf die Liebe können sich eigentlich alle einigen, könnte man meinen.

bell hooks würde wohl antworten: Nicht überall, wo Liebe draufsteht, ist auch Liebe drin. Viele Menschen erleben Beziehungen ohne Liebe. Aber sich einzugestehen, dass man nicht geliebt wurde, tue mehr weh als zu akzeptieren, dass einem Schmerz zugefügt wurde von einem Menschen, den man liebt. Wer etwa als Kind erlebt, dass Eltern nicht schützen, sondern verletzen, hält trotz allem an der elterlichen Liebe fest und sagt: sie waren eben Menschen mit Problemen. Ähnliches gilt für Menschen, oft sind es Frauen, die physische und emotionale Gewalt in intimen Beziehungen erleben. Auch sie neigen dazu zu behaupten, dass die Partner sie liebten, selbst wenn sie vor ihnen fliehen mussten.
Nein, sagt bell hooks: Sie haben dich nicht geliebt. Denn Liebe und Gewalt können nicht zusammen existieren.

Ich ringe mit dieser Auffassung, denn ich will Menschen nicht absprechen, dass sie lieben, auch wenn sie scheitern. Tun wir ja ohnehin alle, ständig, wir armen elenden Sünder. Keine Liebe ohne Scheitern, keine Liebe ohne Verzeihen. Aber die Behauptung von Liebe ist eben auch keine Entschuldigung. Und wie oft geschieht das: dass Verfehlungen aus dem Weg geräumt werden sollen mit dem Verweis auf die trotz allem vorhandene Liebe. Ja, mag sein dass ich Dir wehgetan habe, aber ich liebe Dich. Alles halb so wild, sofern nur Liebe da ist.
Aber was soll das denn heißen, dass Du liebst, wenn Du Dich nicht entsprechend verhältst?
Es ist leicht mit Worten zu lieben oder im Affekt. Wenn’s Dich ganz durchdringt. Und das ist schön! Genuss – das ist die Liebe auch und das soll das Lieben sein. Aber es braucht auch Verbindlichkeit und vollen Einsatz. Wäre die Liebe nur ein Gefühl, so gäbe es keine Grundlage für das Versprechen, sich für immer zu lieben (nach Erich Fromm).

Du sollst Adonaj, Deinen Gott, lieben, mit deinem ganzen Herzen, Deiner ganzen Seele und all Deiner Kraft. Und Deine Nächste und Dich ebenso.
So zu lieben heißt, den Geboten folgen, die das Zusammenleben gelingen lassen, sagt die Tora. Liebe ist die Zusammenfassung des Gebots. Liebe ist: ganzer Dienst.
So zu lieben heißt, sich bewusst dafür zu entscheiden zu lieben. Und aus diesem Entschluss für die Liebe folgt, an sich zu arbeiten, sich dem eigenen geistige Wachstum zu widmen und dem meiner Nächsten, sagt bell hooks. Liebe ist: ganze Entschiedenheit.
So zu lieben heißt, eine Kunst zu erlernen und zu praktizieren, ihr das ganze Leben zu widmen, sagt Erich Fromm. Das verlangt Üben und Dranbleiben. Liebe ist: ganzer Einsatz.

Ich denke an die Männer im Zug von Jerusalem nach Tel Aviv. Sie beten nicht, weil ihnen gerade danach ist. Sie räumen Gott Raum in ihrem Leben ein.
Du sollst den Herrn lieben mit Deinem ganzen Herzen und Deiner ganzen Seele und Deiner ganzen Kraft.
Daran erinnern sie sich, Morgen für Morgen. Wo sie auch sind.
Wenn es klappen soll mit der Liebe im Leben, dann ist das: religiöse und soziale Arbeit. Also schreibe Dir die Liebe zwischen die Ohren und in Dein Herz, leg Dir Erinnerungszettel an Orte, die Deine Augen häufig streifen. Denk an sie. Sprich über sie. Bete für sie. Übe. Jeden Tag, egal wo Du bist. Günstiger ist die Liebe nicht zu haben, die ganze Liebe, die das Sein bestimmt und erfüllt. Aber es gibt nichts, wofür sich mehr lohnen würde zu arbeiten:
Du widmest dich ihr mit vollem Einsatz. Und die Richtung kehrt sich um. Indem Du Dich ganz der Liebe hingibst, macht die Liebe Dich ganz. Nicht erst, indem Du geliebt wirst, sondern in und durch Dein eigenes Lieben. Denn die Liebe bringt Dich ins rechte Verhältnis mit allem und allen. Mit Gott, der Nächsten, Dir selbst. Und sie bringt Deine ganze Existenz zur Erfüllung und zum Ausdruck, wie das kein anderes Wort unserer Sprachen kann.
Außer dem einen: Älohim. Gott.


1 Eckard Otto, Deuteronomium 1–11, Zweiter Teilband: 4,44–11,32, HThKAT, Freiburg 2012, 798.
2 bell hooks [Gloria Watkins], All About Love. New Visions, New York 2001.
3 Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Frankfurt a. M. [1956] 602003.

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