Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Weiteres

Login für Redakteure

Seelengehorsam (Römer 13,1-7)


Predigt von Prof. Dr. Henning Rosenau im Universitätsgottesdienst am 21. Januar 2024

I.
Seele und Gehorsam: zwei schon für sich nicht einfache Begriffe, die Paulus – wie wir gehört haben – in seinem Brief an die Römer verbindet. Das erzeugt Irritationen, ein Störgefühl. Zumindest drängen sich Nachfragen auf. Passt das überhaupt zusammen? Nicht umsonst zählen diese Verse zu den umstrittensten der Heiligen Schrift. Dass diese Seelengehorsam gegenüber Gott fordert, das ist in sich stimmig und muss auch dem Nichtgläubigen plausibel erscheinen. Die Gehorsamspflicht wird aber über die Sphäre der Religionsgemeinschaft hinaus auf die gesellschaftliche Sphäre übertragen: "Die Seele sei untertan der Obrigkeit": die Pflicht ist dem Staat geschuldet. Wie kann das sein?

II.
Der Strafrechtswissenschaftler, der vor Ihnen steht, ist mit diesem Bibelwort angesprochen. Denn das Strafrecht wird in der Form beschrieben, wie wir es bereits aus dem Alten Testament kennen. "Auge um Auge, Zahn um Zahn", heißt es im 2. Buch Mose.1 Die Strafe sühnt das Unrecht des Täters. Das ist die Aufgabe des Staates, der als Diener Gottes eingesetzt sei. Die Obrigkeit ist "eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut" (Vers 4 in der Übersetzung Martin Luthers). Die absolute Straftheorie scheint hier auf, wie sie von Immanual Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel aus der Rache in die Neuzeit überführt wurden. Die Strafe ist losgelöst von jedem Zweck zu sehen. Sie hat nur das durch die Normverletzung begangene Unrecht zu vergelten. Einen Gedanken, den wir im Ansatz noch heute im Strafgesetzbuch finden, wenn es in § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB heißt, dass die Schuld die Grundlage der Strafzumessung ist. Sie darf also – darin lag die epochale Entdeckung – auch nicht über die Schuld hinausgehen. Zugleich ist die Strafe das einschneidenste Mittel, welches dem Staat gegenüber seinen Bürgern zur Verfügung steht. Wir schreiben unsere Strafurteile in die Haut des Verurteilten, lesen wir in der Strafkolonie von Franz Kafka. Paulus spricht ganz parallel davon, dass die Obrigkeit "das Schwert nicht umsonst" trägt.

Der Strafrechtswissenschaftler ist angesprochen, aber er hält inne. Denn gerade dort, wo wir dem Ungehorsam gegen die Gesetze die schärfsten Mittel, das "Schwert", entgegensetzen, gerade dort, wo wir mit unserem Verdikt über den Täter ein sozialwidriges Unwerturteil verknüpfen, ist vom Seelengehorsam keine Spur.

Ganz im Gegenteil. Auf die böse Seele, auf die schlechte Gesinnung nehmen wir nicht Bezug. Sie interessiert uns nicht, mehr noch, sie geht den Staat überhaupt nichts an. Das Unrecht, welches wir vergelten, ist ein Unrecht des nicht gebilligten Erfolges und der nicht gebilligten Handlung. Wenn der Erfolg ausbleibt, der Täter sein Opfer nicht trifft, bestrafen wir noch das Handlungsunrecht als die Betätigung seines rechtsfeindlichen Willens. Denn diese versuchte Tat wird nach außen manifest und erschüttert so die Rechtsgemeinschaft. Wenn der Täter am Frühstückstisch aber für sich denkt, heute bringe ich sie um, und dann gar nichts tut, darf er das vor dem Recht denken. Seine böse Seele wird theologisch gedacht sicher angreifbar sein. Vor dem staatlichen Strafrecht ist sie indifferent. Ganz bewusst haben wir uns gegen ein Gesinnungsstrafrecht entschieden. Mit den bösen Gedanken werden wir vom staatlichen Gericht nicht behelligt. Von Seelengehorsam keine Spur.

Umgekehrt bleibt die Seele im Strafrecht weitgehend ohne Beachtung. Der Seelenschaden findet noch Berücksichtigung, wenn er zu einer psychiatrisch relevanten Erkrankung beim Täter geführt hat oder zu einer Störung des Gefühlslebens, des Willens und den Antriebserlebens. Wenn deshalb die Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit nicht mehr gegeben sind, handelt der Täter nach § 20 StGB ohne Schuld und kann nicht bestraft werden. Aber wenn es um das Opfer eines Verbrechens geht, zieht sich das Strafrecht bereits zurück. Wie so vieles in der Rechtswissenschaft ist zwar auch diese Frage umstritten. Doch nach ganz herrschender Meinung – wie wir es nennen – führt die Verletzung der Seele, wie etwa psychische Probleme beim Opfer, nicht zu einer Strafbarkeit. Nur der Körper wird vom Strafrecht geschützt. Allenfalls, wenn der Seelenschaden so schwer wiegt, dass er sich körperliche auswirkt, greift das Strafrecht ein. Wir werden zum Schluss noch einmal dieses Rechtsgebiet streifen.

III.
Auch sonst spielt der Begriff der Seele im überwiegend nüchternen Recht allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die Seele bezeichnet im juristischen Kontext eine Leerstelle. Versuchen wir, uns der Seele auf andere Weise zu nähern. Dabei bin ich dem Gehorsam bislang eher ausgewichen. Wie steht es also damit?

Zunächst wird derjenige, der seine Bibeltexte parat und im Kopf hat, aufgemerkt haben. Wir haben den Eingangsvers "Jede Seele sei Untertan der Obrigkeit, ... " gehört. In der Verdolmetschung Martin Luthers, wie er seine Übersetzungsaufgabe nannte, heißt es ganz anders. Dort lesen wir: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit" (sic!). Auch in der Einheitsübersetzung lesen wir von "Jede(m)",2 nicht von "Jede(r) Seele". Mag Martin Luther aus rein theologischen Überlegungen den Begriff der Seele hier vermieden haben, und mag er deswegen die Urfassungen aus dem Griechischen wie dem Lateinischen (dort: omnis anima) umformuliert haben: er weist damit auf eine wichtige Dichothomie hin, die auch dem Juristen einleuchtet. Eine Dichothomie, die allen Universitätsgottesdiensten des Wintersemesters unterlegt ist: "Mein Leib und Seele" heißt die Reihe. Wir haben es mit zwei Begriffen zu tun. Und nach der Lutherbibel schulden wir keinen Gehorsam der Seele, sondern Gehorsam des Leibes. Jedermann, jeder, der Mensch ist dem Staat verpflichtet; nicht aber seine Seele, nicht seine Gesinnung unterfällt der Gehorsamspflicht.

Das Recht kennt eine ähnliche Dichothomie. Wir unterscheiden die Würde des Menschen auf der einen Seite und das Leben. Beides steht unter staatlichem Schutz, ist aber nicht zusammen zu sehen, sondern ist voneinander entkoppelt zu bewerten. "Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu," sagt das Bundesverfassungsgericht.3 Die Umkehrung des Satzes: "Wo kein Menschenleben existiert, kann keine Menschenwürde sein", gilt nicht. Das ist uns allen beim toten Menschen bewusst, dessen Würdeschutz über dessen Tod hinausreicht, und dessen postmortales Persönlichkeitsrecht wir schützen. In gleicher Weise wird unter Medizinrechtlern, zu denen auch ich mich zähle, vertreten, dass wir auch einen prävitalen Würdeschutz annehmen können. Wenn wir mit guten Gründen davon ausgehen, dass das Leben des Menschen erst mit der Nidation des Embryos im Mutterleib beginnt, bedeutet diese Wertung keineswegs, dass das Stadium zuvor völlig rechtsfrei gestellt wäre. Dem frühen Embryo können wir mit dieser Überlegung ebenfalls bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle abgestuften Schutz zukommen lassen. Das führt uns nun aber ab vom Seelengehorsam. Damit ist aber gezeigt, dass auch wir zwischen dem Leben einerseits und einer transzendentalen Zuschreibung andererseits, die wir Würde nennen, unterscheiden.

Nun ist mir klar, dass die Seele nicht mit der Menschenwürde eins geht. Wir haben aber interessante Parallelen zwischen beiden Begriffen. Wie die Seele theologisch ist die Menschenwürde juristisch von einer gewissen Diffusität, ähnlichen Unklarheit, weitester Offenheit, umfassender Allgemeinheit, schwerer Fassbarkeit und hoher Abstraktionsebene gekennzeichnet. Und ein zweites tritt hinzu. Die Seele ist, wie die Würde, vom Leib des Menschen, wenn ich die kirchlichen Aussagen nicht falsch deute, zu lösen. Sie existiert vor der Geburt und existiert nach dem Tode. Schließlich kommt ihr drittens wie der Würde etwas Unverfügbares zu.

Was die Menschenwürde ist, fällt uns schwer zu sagen. Wir behelfen uns mit der Dürig'schen Objektformel, wonach der konkrete Mensch nicht "zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt" werden darf.4 Allerdings hilft diese Formel oft nicht weiter. Sie mag ein erster Ansatz sein, erscheint aber doch zu formelhaft. Sie geht auf das Instrumentalisierungsverbot bei Immanuel Kant zurück, der bereits wie folgt formulierte: "Der Mensch ist aber keine Sache, mithin nicht etwas, das b l o ß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muss bei all seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden."5 Soll die Würde nicht ihren materiellen Gehalt verlieren, müssen wir fragen, ob in der Behandlung des Menschen eine Verachtung des Wertes, der ihm kraft seiner Personalität zusteht, zum Ausdruck kommt. Wir müssen fragen, ob wir in dessen Subjektqualität schlechthin eingreifen.

Damit wird schon deutlich, dass wir der Menschenwürde vor allem vom Eingriff her gedacht, vom Negativen her also, am sichersten nahekommen. Und diese negativen Erfahrungen waren es auch, welche die Mütter und Väter des Grundgesetzes bewogen hatten, die Menschenwürde an den Anfang unserer Verfassung zu stellen, und zwar vor der Schutzverbürgung für Freiheit, Leib und Leben in Art. 2 GG. Es waren die Erfahrungen des Dritten Reiches, als die Nationalsozialisten und die Millionen Deutschen, die sie unterstützt haben, unzähligen Menschen die Subjektqualität abgesprochen haben. Seien es Juden gewesen, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, es wären weitere mehr aufzuzählen. Mit dem Art. 1 GG war auch die Aussage des "Nie wieder" verbunden, als wir unser GG am 23.5.1949 verkündet haben.

Aber mit dem Begriff Gehorsam lässt sich die Würde (wenn wir so wollen, also mit dem gewissen Parallelbegriff zum Seelenwort) nicht verknüpfen. Oder jedenfalls gänzlich anders, als wir es im Römerbrief lesen. Es ist der Staat, der diese Menschenwürde zu achten hat. Der Staat muss diesen obersten Verfassungswert, diese großartige Idee der Menschheit, gewährleisten und sich schützend vor alle Menschen stellen, die in ihrer Achtung der Menschenwürde gefährdet sind. Es ist also der Staat, der hier Gehorsam schuldet, nicht der Untertan, von dem im Römerbrief die Rede ist. Der Staat darf keine Folter androhen, auch wenn das entführte Kind sich noch im unbekannten Versteck des Entführers befindet und zu sterben droht. Der Staat darf keine Brechmittel bei Menschen einsetzen, die im Verdacht stehen, das Rauschgift geschluckt zu haben, als die Polizei eintrifft. Der Staat darf kein entführtes Flugzeug mit unschuldigen Passagieren abschießen, um am Boden eine Mehrzahl von Menschen vor dem Tod zu retten: alles Beispiele, die hier in Deutschland verortet sind. Die Menschenwürde kann weit reichen, weiter, als vielfach in religiösen Bezügen gedacht wird. So nimmt das Bundesverfassungsgericht zutreffend an, dass aus der Menschenwürde ein unbeschränktes Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu folgern ist.6 Jeder Mensch darf, wenn er zu einer freien Willensbildung in der Lage ist, frei entscheiden, wie und wann er seinem Leben ein Ende setzen möchte. Dieser Sterbewille unterliegt, wie auch ärztliche Behandlungen sonst, keiner Vernunfthoheit des Staates. Wir, die Gesellschaft, haben einen solchen Sterbewunsch nicht zu remoralisieren, nicht zu missbilligen oder mit einem Makel zu belegen. Die Menschenwürde kennt keine Gehorsamspflicht. Und wenn Sie einen Suizidwunsch mit der Seele in Verbindung bringen wollen, dann wäre aus juristischer Sicht auch der Eingangsvers aus dem Römerbrief nicht zu halten. Das spricht dann doch eher für die Fassung, wie wir sie bei Martin Luther lesen: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit".

IV.
Damit wäre ich mit Martin Luther bei der Bewertung, dass es nur der Mensch ist, nicht eine transzendentale Eigenschaft wie die Seele oder die Würde, die dem Staat verpflichtet sein kann. Der Mensch meint damit das Wesen, welches innerhalb einer Gemeinschaft lebt. Ein Eremit auf einer einsamen Südseeinsel ist niemandem Gehorsam schuldig. Der zoon politikon7 aber schon. Wir erkennen damit die dem Recht eigene Dialektik. Das Recht öffnet einerseits Freiräume, beschränkt aber zugleich auch solche, indem es Verpflichtungen formuliert und dem Einzelnen auferlegt. Das Bundesverfassungsgericht hat es schon mehrfach folgendermaßen formuliert: "Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten."8

Diese Verpflichtung, diese Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit, bezieht sich auf das, was unsere Gemeinschaft, unsere Gesellschaft in der Bundesrepublik auszeichnet: sie bezieht sich auf unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat. Wenn es in Art. 20 Abs. 4 GG heißt, dass gegenüber jedem, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, alle Deutschen Widerstand üben dürfen, dann ergibt sich mittelbar aus dieser Formulierung, dass insoweit jedermann Gehorsam dieser Ordnung gegenüber schuldet. Allen also, die sich gegen Demokratie und Rechtsstaat stellen, kann der Römerbrief entgegengehalten werden.

Dabei kommt nun wieder die Menschenwürde aus dem ersten Verfassungsartikel ins Spiel. Denn ein Staatswesen, eine Gesellschaft, die die Menschenwürde in deren Ausprägungen achtet, kann nur ein demokratisches Staatswesen sein, welches rechtsstaatlich aufgestellt ist. Schon die Autokratie muss, um sich erhalten zu können, die Menschenwürde, jedenfalls für bestimmte Gruppierungen oder Einzelpersonen, in Frage stellen. Der Despot tut es allemal. Die Demokratie ist als Organisationsform nie vollkommen, immer anspruchsvoll und oft auch anstrengend. Aber es gilt weiterhin das Bonmot Winston Churchills, wonach die Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen ist – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.9

Die Demokratie hat freilich ein Problem, das ich mit einem zweiten berühmten Zitat illustrieren möchte. Es stammt von Ernst-Wolfgang Böckenförde, einem großen Verfassungsrechtler und Verfassungsrichter. "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann."10 Die Demokratie ist also auf eine innere Haltung ihrer Mitglieder angewiesen, die sie im Grundsatz akzeptieren, respektieren und gegebenenfalls für sie einstehen. Ohne eine solche Grundüberzeugung löst sich die Demokratie selbst auf. Und das gerade über ihr zentrales Legitimationsmittel, die freien Wahlen. Wir haben das gut vor der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft für Deutschland gesehen. Ansätze solcher Auflösungsgefahren finden sich derzeit in Europa und darüber hinaus. Insofern wird man auch rechtlich formulieren können, dass ein jeder mit einer solchen inneren Haltung, mit einem demokratischen Geist dem Staatswesen verpflichtet ist. So gesehen ließe sich Paulus doch wieder beitreten: "Jede Seele sei untertan der Obrigkeit".

V.
Zurück zum Gehorsam jedermanns, zum Gehorsam des Staatsbürgers dem Staat gegenüber und zum Gehorsam, die wir den Gesetzen schuldig sind. Gibt es Grenzen für den Gesetzesgehorsam?

Dabei sind wir bei einer tagesaktuellen Debatte, womit ich zurück zum Strafrecht komme. Wie ist es mit dem sog. Containern, bei dem Menschen aus abgesperrten Containern noch genießbare Lebensmittel holen und diese an Bedürftige verteilen? Das erfüllt zwar den Tatbestand des Diebstahls. Muss und soll es aber bestraft werden? Wie ist es mit den sog. Klimaklebern, die sich auf den Asphalt kleben, um auf die Klimabedrohung aufmerksam zu machen und energisches Handeln der Politik einfordern?

Interessanterweise lässt sich bei der Frage nach der Strafbarkeit der Klimakleber auch ein gewisser Ungehorsam des Bundesgerichtshofs gegenüber dem Bundesverfassungsgericht feststellen. Denn das Verfassungsgericht hatte entschieden, dass die bloße Anwesenheit nicht Gewalt sein kann. Der Wortlaut, der im Strafrecht die Grenze der Auslegung markiert, sei überschritten. Das wollte der BGH nicht hinnehmen, der seine jahrzehntelange Rechtsprechung desavouiert sah. Er erfand die Zweite-Reihe-Rechtsprechung. Gegenüber den Autofahrern in der ersten Reihe liege keine strafbare Nötigung vor. Wohl aber bei den Autofahrern ab der zweiten Reihe, weil sich diese nun einem auch physisch unüberwindbaren Hindernis gegenübersahen. Jedenfalls mit dem Geist der Entscheidung des BVerfG ist das kaum zu vereinbaren.

Eine eindeutige Antwort, wie weit der Gehorsam reicht, gibt es hier noch nicht. Zumindest in der Wissenschaft ist man uneins. Vielfach wird darauf verwiesen, dass Fortschritte im Recht oftmals mit vorhergehenden Rechtsverletzungen verbunden waren. Unverheiratete Paare haben in den sechziger Jahren schon gemeinsam in der Mietwohnung übernachtet, obgleich es verboten war und sich der Vermieter wegen Kuppelei strafbar machte. Solche Normen sind längst abgeschafft. Die Ärztin Kristina Hänel in Gießen hat darauf hingewiesen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt und eine Bestrafung in Kauf genommen. Daraufhin wurde die Strafnorm abgeschafft bzw. modifiziert. Und auch der Einschränkung der Nötigung durch das BVerfG gingen Blockaden von Studierenden voraus, die zunächst deswegen bestraft wurden.

Es scheint so, dass die Evolution des Rechts auch mit Störungen und Rechtsdurchbrechungen verbunden ist. Bleiben diese in gewissen Grenzen, die eine Gesellschaft hinnehmen kann, sollten wir diese akzeptieren. Die Lösung des Strafrechts wäre wohl in einem Absehen von der Strafe bzw. einer Einstellung der Strafverfahren zu suchen. Das ist freilich noch alles offen, wir sehen auch die gegenteiligen Reaktionen. Für den Gehorsam jedenfalls gegenüber dem Staat scheinen gewissen Grenze akzeptabel und wohl auch letztlich für das Staatswesen förderlich zu sein.

VI.
Damit würde ich als Jurist den Römerbrief relativieren wollen. Kein Seelengehorsam, aber die Verpflichtung, Demokratie und Rechtsstaat zu unterstützen. Und es muss auch Durchbrechungen der Gesetzesbindung geben, damit das Recht sich entwickelt und mit der Gesellschaft Schritt hält. – Lässt sich Martin Luther dafür nicht geradezu als lebendes Beispiel anführen? Er hat sich dem damaligen Kirchenrecht und implizit auch der Staatsverfassung widersetzt, kalkuliert Regeln gebrochen und so Neues, Großartiges geschaffen, weswegen wir uns heute Abend hier überhaupt versammelt haben.

Amen


1 Ex 21,23 ff.
2 Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalt unter. Denn es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott; ...
3 BVerfGE 39, 1, 41.
4 Dürig, AöR 81 (1956), 117, 127.
5 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werke, Bd. 4, 1956, S. 60 f.
6 BVerfGE 153, 182.
7 Aristoteles, Politik, I 2, 1253 a, 1 ff.
8 BVerfGE 4, 7, 15 f.; 59, 275, 279; 153, 182 Rn. 301.
9 Churchill, zit. nach: Langworth, Richard (Edit.), Churchill by Himself: The Definitive Collection of Quotations, 2008, S. 574.
10 Böckenförde, in: Doehring, Karl (Hrsg.), Säkularisation und Utopie: Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart u. a. 1967, S. 75 ff.

Zum Seitenanfang