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Höher als alle Vernunft (Philipper 4,4-9)


Predigt von Prof. Dr. Heike Kielstein im Universitätsgottesdienst am 21. Mai 2023

Liebe Universitätsgemeinde!

„Nehmen Sie doch Vernunft an!“ Dies sind Worte, die einem in den Sinn kommen und die man laut und verzweifelt ausrufen möchte, wenn man an Vladimir Putin denkt.

„Nehmen Sie doch Vernunft an!“ denke ich auch, wenn ich auf das schaue, was die Taliban in Afghanistan anrichten. Ist es vernünftig Mädchen und Frauen das Recht zu Bildung und selbstbestimmtem Leben zu nehmen?

Ist es vernünftig nicht den Frieden zu bewahren, sondern die Schreckensherrschaft des Krieges aufrechtzuerhalten?

Ist es vernünftig friedlich miteinander zu leben? Die meisten Menschen bejahen diese Frage vehement. Warum fehlt es dann trotzdem an Frieden – Frieden im Großen (in der Welt) und im Kleinen (in der Familie/im Freundeskreis/unter Kolleginnen und Kollegen, unter Kommilitoninnen und Kommilitonen)? Weil wir unvernünftig sind?

Über das, was vernünftig ist und wie konsequent man Vernünftiges in Taten umsetzen muss, gehen die Meinungen weit auseinander. Dass Frieden ein anzustrebendes, vernünftiges Ziel ist, darüber herrscht überwiegend Konsens, aber: Wie man dorthin kommt, wie der Weg zum Frieden aussieht und wie schnell und unter welchen Umständen der Frieden erreicht werden sollte, dazu herrscht keine Einigkeit.

„Nehmt doch Vernunft an!“ Wenn Eltern dies zu ihren streitenden Kindern sagen, ist dies als klare Anweisung aufzunehmen und im besten Fall zu befolgen. In diesem Fall heißt ‚Vernunft annehmen‘ nicht mehr zu schreien, sich nicht weiter zu prügeln, etwas Sinnvolles zu machen – und sich zu vertragen. „Nehmt doch Vernunft an!“ wird unter erwachsenen Menschen allerdings nicht als unmissverständliche Anordnung aufgenommen, sondern höchstens als eindringliche Bitte, als Appell. Ein Appell an die Vernunft. Aber letztlich muss konstatiert werden: die menschliche Vernunft kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Am Dienstag dieser Woche hatte die Schleusinger Kirchgemeinde in die Johanniskirche eingeladen – zum Bürgerdialog. Eine Kirche, als friedvoller Ort für Menschen, die Angst haben und miteinander ins Gespräch kommen wollen. Grund für die Zusammenkunft von ca. 250 Menschen war die geplante Geflüchteten-Unterkunft in einem ehemaligen, leerstehenden Krankenhaus. Einen Tag danach sprach die Thüringer Justiz- und Migrationsministerin im Radio über den Bürgerdialog. Sie hatte diese Veranstaltung mitorganisiert und stand nicht alleine vor den Menschen aus Schleusingen, sondern hat Polizisten zu Wort kommen lassen, die mit Zahlen und Fakten darüber informiert haben, dass es nicht zu erhöhter Kriminalität gegen Kinder und Frauen in einer vergleichbaren, nahe gelegenen, Unterkunft für Geflüchtete gekommen ist. Dies wurde aber bis zu dem Bürgerdialog immer wieder behauptet. Vielleicht wird es auch nach dieser Veranstaltung weiter behauptet, aber es besteht ein wenig Hoffnung. Hoffnung auf Mitgefühl, Solidarität, Empathie und den Wunsch auf ein friedvolles Zusammenleben.

„Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft“: Frieden im biblischen Sinne betrifft alle Dimensionen unseres Lebens: das friedliche Zusammenleben von Menschen, der sorgfältige und nachhaltige Umgang des Menschen mit der Natur, unser Gottvertrauen. Das hebräische Wort schalom umfasst weit mehr als das deutsche Wort Frieden. Es ist ein Segenswort. Es hat die Bedeutung eines umfassenden Glücks und Heils, die Beschreibung eines Zustands der Zufriedenheit jedes einzelnen Menschen und der Gemeinschaft. Der Frieden nach der biblischen Botschaft ist ein universales hohes Gut, das angesichts des Unfriedens in der Welt, nur Gott schenken kann. Dies bedeutet aber gleichwohl, dass wir nicht passive Friedensempfänger:innen sind, sondern dass wir uns in den Dienst des Friedens stellen müssen. Der Einsatz für den Frieden ist eine Form christlicher Verantwortung – und ein hartes Stück Arbeit.

Die Tiefendimensionen des Friede Gottes übersteigen all unsere Vorstellungen. In diesem Frieden steht Gott uns bei, beschützt und behütet uns, bewahrt uns vor Irrwegen und fordert uns aber auch heraus. Vernunft, Denken, Nachdenken, Abwägen, Entscheiden – das sind Geschenke Gottes. Der Frieden braucht eine Haltung. Eine Haltung, die frei von Hass ist. „Wer Hass verspürt, der kann nie frei sein“, sagte Nelson Mandela im Februar 1990 kurz nach der Freilassung aus seiner 27-jährigen Gefangenschaft.

Wer Hass verspürt, kann nicht in Frieden leben. Unser Glaube ist die Botschaft des Friedens und der Versöhnung. Christus weist über unsere engen Grenzen, unsere Unvernunft, unsere kleine Kraft hinaus. Jede / Jeder von uns sollte bereit sein, die Faust zu öffnen und zur Versöhnung auszustrecken. Dann ist der Anfang getan. Dann halten wir den Frieden für möglich, dann sind wir offen für ein Gespräch, eine Versöhnung, für den Glauben.

Im Brief an die Philipper Kapitel 4, Vers 7 spricht uns der Apostel Paulus den Frieden Gottes zu, der ein Geschenk ist. Der Friede Gottes, der höher ist als alles andere, ist die Voraussetzung, damit Menschen friedvoll miteinander leben können. Wenn dieser Friede unsere Gedanken und Handlungen prägt, dann wird dies sichtbar in der Art und Weise wie wir leben und mit anderen Menschen umgehen: indem wir niemanden ausgrenzen, indem wir andere Meinungen anhören und akzeptieren, indem wir Versöhnung anstreben. Versöhnung, die neue Anfänge ermöglicht. Versöhnung, die Frieden ermöglicht.

Der Friede Gottes ist präsent - selbst am Abgrund des Lebens.

Ich möchte Dietrich Bonhoeffer zitieren:
Der Friede Gottes ist die Treue Gottes unserer Untreue zum Trotz,
im Frieden Gottes sind wir geborgen, behütet und geliebt.
Freilich -  er nimmt uns unsere Sorge, unsere Verantwortung, unsere Unruhe nicht völlig ab, aber hinter all dem Treiben und Sorgen ist der göttliche Friedensbogen aufgegangen,
wir wissen unser Leben getragen und in Einheit mit dem ewigen Leben Gottes, wir wissen, dass der Riss, den wir immer wieder schmerzlich empfinden müssen, nur ein immer erneuerter Hinweis darauf ist, dass Gott den Riss geschlossen hat,
dass er uns in sein Leben hineingezogen, so wie wir sind,
als Menschen der Erde, als Menschen mit Herzen und Sinnen,
das heißt in der Sprache der Bibel: mit Leidenschaften und Nöten, mit den Eindrücken der Welt befangen.

Am 19. Dezember 1944 (kurz vor Weihnachten und knapp 4 Monate vor seinem Tod) schrieb Dietrich Bonhoeffer den letzten Brief aus dem Gestapo-Keller in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße an seine Verlobte Maria von Wedemeyer. Das darin enthaltene Gedicht Von guten Mächten‘ war sein Weihnachts- und Abschiedsgeschenk für die Familie – und zugleich ein Vermächtnis, das die Christen weltweit voller Dank aufgenommen und bewahrt haben.

Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Dietrich Bonhoeffer hatte die Kraft, diese tröstlichen Zeilen in einer Gefängniszelle zu schreiben – im Angesicht des Todes und nach jahrelangem Widerstand gegen ein scheinbar allmächtiges, ein unvorstellbar grausames Kriegs-Regime.

Dietrich Bonhoeffer, Nelson Mandela. Jeder dieser Männer war von seinen moralischen Grundsätzen überzeugt. Beide Männer handelten mutig und entschlossen zugunsten ihrer Mitmenschen. Beide Männer waren zu ihrer Zeit, und darüber hinaus, eine Kraft gegen das Böse. Mut und Haltung waren Nelson Mandela und Dietrich Bonhoeffer gemein. „Wenn wir uns Sorgen über die Gefahren machen, die uns bedrohen, wenn wir auf den Weg blicken statt auf den, der vorangeht, weichen wir bereits vom Weg ab.“ schrieb Bonhoeffer. Nelson Mandela und Dietrich Bonhoeffer bleiben Vorbilder des aufopferungsvollen Dienstes für ihre Mitmenschen, für den Frieden. Jeder stand für Gerechtigkeit und Freiheit, ohne Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder des kulturellen Hintergrunds.

Paulus schrieb den Brief an die Philipper auch aus dem Gefängnis. Auch ihm war zur Zeit der Abfassung nicht klar, ob er freikommen würde. Paulus legt Zeugnis ab, dass Gottes Frieden nicht davon abhängt, dass alles Weltliche um uns herum ‚stimmt‘ und friedlich ist. Er kann Gegenwart werden, auch unter desolaten Bedingungen. Der Friede Gottes ist bei uns, ist unerschütterlich, selbst im Angesicht des Todes.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen

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