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Entzweiung (Mt 10,34-39)


Predigt von Prof. Dr. Friedemann Stengel im Universitätsgottesdienst am 25. Juni 2023

Liebe Universitätsgemeinde, liebe Stadtgemeinde, liebe Gäste!

Der Predigttext für diesen Gottesdienst steht im Matthäusevangelium im 10. Kapitel (34-39):
Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. (Mt 10,34-39)

Vor drei Wochen haben wir noch gehört: Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln (Micha 4,1-5). Oft wird in diesem Text aus dem Propheten Micha nicht mitgelesen, dass es heißt: das wird geschehen in den letzten Tagen im kommenden Friedensreich. Schon immer wird darüber ja gestritten, wann genau diese letzten Tage losgehen und ob wir Christinnen und Christen nicht doch schon jetzt und hier mit dem Umschmieden beginnen sollen, damit dem Reich des Herrn vorgebaut und der Weg geebnet wird. Andere meinen voller Ernst und mit Recht: Wir sind nicht in den letzten Tage oder jedenfalls wissen wir es nicht genau. Und wir müssen Schwerter und Sicheln bereithalten und auch anwenden, um dem Unrecht, dem Terror und dem Krieg zu wehren – weil wir eben nicht im Friedensreich leben und es deswegen weiter mit Gewalt zu tun haben. Dennoch: Schwerter zu Pflugscharen – das hat den Vorrang und soll uns Ziel und Hoffnung sein.

Und heute das? Mit einem solchen universalen, geradezu totalen Anspruch: Meint nicht, ich wäre gekommen, um Frieden zu bringen auf die Erde – auf die ganze Erde also –, sondern das Schwert und die Entzweiung zwischen Familien, Schwiegertöchtern und Schwiegermüttern, Eltern und Kindern. Es ist nicht das einzige Mal, dass in einer derartig herabsetzenden Weise über die Familien der Nachfolgerinnen und Nachfolger geredet wird. An unserer Stelle ist die Rede davon, dass man Vater und Mutter, Herkunft und Wurzel, nicht mehr lieben soll als den Herrn. Im Lukasevangelium (14,26) sagt Jesus sogar: Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein. Das ist noch ein Zahn schärfer als Zwietracht und Entzweiung.

Wer dem nachfolgt, der die Entzweiung bringt und nicht den Frieden, wird sich Widersprüchen aussetzen müssen. Da seht ihr, werden einige sagen: Was man Jesus dort in den Mund legt, ist Grund allen Übels in der Welt. Eure Nachfolge ist doch nichts anderes als blinder Religionsgehorsam und die Zerstörung des Familien- vielleicht sogar des Weltfriedens. Ihr werdet zum Gehorsam aufgefordert, zu einer unbedingten Nachfolge, auch und gerade um den Preis der Trennung.

Manche fühlen sich verpflichtet, den Text und das Schwert und die Entzweiung kurzerhand zu entschärfen, nicht selten heißt es dann: Das ist nur Bildrede, eine Allegorie. Und um des lieben Friedens willen: Das kann doch wohl nicht so gemeint sein!

Was tun wir nicht alles, um Provokationen zu vermeiden. Wir sehnen uns nach Harmonie, wir wollen unsere Familien mitnehmen. Wir vermeiden Konflikte. Schwei­gen wir lieber, wenn Anverwandte in Tiraden verfallen? Unterlassen wir es lieber zu widersprechen, damit nichts eskaliert? Und gehen wir uns inzwischen nicht lieber aus dem Weg, um unvereinbare Positionen nicht aufeinander platzen zu lassen, besonders in politischen Fragen – ich erspare mir heute Beispiele dafür. Wir erfahren ja wirklich, dass Familienbande darüber zerstört werden können. Und versuchen, dass das nicht geschieht. Dann ist Blut dicker als Wasser.

Bei Jesus geht es zwar nicht vordergründig um Politik. Aber Entscheidungen für Jesus haben aktive Konsequenzen. Und die sind immer auch politisch, auch wenn sie ganz unterschiedlich ausfallen und wir uns darüber streiten, welches die richtigen sind. Im Text geht es darum, woran unser Herz hängt, woran es zuerst hängt. Hängt das Herz an der Welt (amor mundi) und an sich selbst (amor sui), dann kann es nicht an Gott hängen (amor Dei). Ist das wirklich so radikal zu denken, selbst wenn es nur um eine Frage der Prioritäten geht? Der Text spricht nun genau in dieser Weise in Radikalität von Nachfolge und er spricht von der Nachordnung von Verwandtschaftsverhältnissen, von der Liebe zu Eltern, Kindern, Schwiegertöchtern. Er spricht gegen „Blut ist dicker als Wasser“ und gegen trügerische Harmonien.

Seit Jahrzehnten kehren die Menschen nicht nur den Kirchen, sondern auch dem Glauben in Scharen den Rücken. Einige kommen wieder. Wer das tut, und manche von uns haben vielleicht Beispiele vor Augen, setzt sich oft in bewussten Gegensatz zu seinen Familien und trifft auf völlige Verständnislosigkeit. Da entstehen Schmerzen. Bei denen, die jede Form von Glauben für völligen Unsinn halten, für unwissenschaftlich oder wenigstens für fremdartig und unverständlich. Und diejenigen, die den Weg des Glaubens bewusst beschritten haben und diese Trennung aushalten müssen, trifft dieses Unverständnis.

Es gibt auch anderes. Da ist eine Konfi-Gruppe und ein Abend mit den Eltern, die sich der Reihe nach vorstellen: was sie selbst mit Konfirmation verbinden, wie ihre eigene religiöse Biographie ausgesehen hat, wie sie zum Glauben stehen, was sie sich für ihr Kind erhoffen. Die meisten Eltern sind mit dem Glauben groß geworden, bei manchen eine lieb gewordene Gewohnheit und auch eine bewusste Annahme. Dann ist die Reihe an einem Vater, der ganz offen zugibt: Ich selbst bin durch und durch Atheist und habe mir das nie anders vorstellen können. Als mein Sohn, unser einziges Kind, in der Grundschule ganz selbständig damit anfing, sich für den Glauben zu interessieren und dann den Wunsch hatte, sich taufen zu lassen, war ich vollkommen überrascht und befremdet. Und dann hat er sich wirklich taufen lassen. Mir ist und bleibt das fremd, sagt der Vater. Und ich liebe mein Kind. Er sagt „und“ und nicht „aber“. Deswegen bin ich heute hierher gekommen und ich bin froh darüber, sagt er.

Blut ist dicker als Wasser. Der Vater gräbt nicht das Schwert aus. Er schickt seinen Sohn nicht in die Wüste, er manipuliert nicht das Kind, dass es von seinem Wunsch und seiner in kindlicher Emanzipation getroffenen Entscheidung abrückt. Er rät nicht ab, er übt keinen Druck aus, er macht es mit und hält am Sohn fest. Mich hat diese Begebenheit tief berührt. Ich möchte sie nicht zu einer Story degradieren, die keine Rolle spielt, weil es eben eine absolute Ausnahme ist. Das Kind, der Sohn, behauptet und bekennt, was ihm wichtig geworden ist, und ausgerechnet der nicht glauben könnende Vater nimmt das an. Was für ein Ereignis!

Und natürlich erfahren andere das genaue Gegenteil: Unver­ständnis, getrennte Feste in Familie und Freundschaften. Menschen machen die Erfahrung, dass die eigenen Kinder und Geschwister den Glauben verlieren oder bewusst aufgeben. Das ist oft noch einmal etwas anderes als ein Kirchenaustritt, denn wenn man sich innerlich entfremdet, dann ist das nur der nächste Schritt. Menschen erfahren, dass es besser ist, die Entscheidung der anderen zu respektieren als sich zu streiten. Und tun es aus diesem Grund auch nicht, obwohl es schmerzt, dass die geliebten Mitmenschen den gemeinsamen Glauben nicht mehr teilen. Ein fauler Friede? Ist dann Blut auch dicker als Wasser? Jesus sagt: Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, denkt das bloß nicht, sondern das Schwert der Entzweiung. Da haben wir einiges auszuhalten.

Es geht bei der Entzweiung um Entschiedenheit. Besitz, Familie, Berufe werden aufgegeben, wo Menschen zu Nachfolgerinnen und Nachfolgern werden. Entschiedenheit ist mit Brüchen verbunden. Gefragt ist kein weichgespültes Christentum, das zwischen Vorher und Nachher keinen Unterschied kennt, das in einer Gesellschaft zu leben meint, in der Christsein und Nichtchristsein offenbar keinen merklichen Unterschied machen. Zu mitlaufenden Mitläufern wird in diesem Text gesprochen: Habt ihr überhaupt eine innere Entscheidung getroffen? Ein Christenleben, das so entschieden wäre, dass es das Leben in allen Dimensionen umfasst, wird auch nicht davor zurückscheuen, mit Strukturen zu brechen, mit Autoritäten, die diktieren, mit Traditionen, die binden, mit Denkweisen, die nicht hinterfragt werden, und sogar mit den eigenen Früchten, wenn sie unfrei machen. Und der eigenen Familie? Die christliche Entscheidung, die alle Lebensbereiche umgreift, geht ans Eingemachte. Einstellungen, Bindungen des Blutes, der Autorität, der Tradition können eben sehr wohl gegen die Entschiedenheit der Jüngerinnen- und Jüngerschaft stehen. Nachfolge kann Brüche mit sich bringen, wenn Bindungen für die Nachfolge unfrei machen. Dann wäre die Familie nur ein Fallbeispiel für biologische oder soziale oder geistige Abhängigkeiten, die fesseln, einengen und im negativen Sinne bewahren, nämlich vor der Entscheidung. Sehr wohl gibt es diese Entschiedenheit auch im Hinblick auf Familie. Menschen finden gegen ihre seit Generationen antrainierten familiären Gepflogenheiten den Weg zu Christus, und es wäre naiv zu meinen, das ginge ohne Brüche und Abbrüche.

Und auch alle anderen, die diese Brüche scheinbar nicht vollziehen müssen, sind nach der Grundorientierung gefragt: Sind es die bequemen Traditionen und Üblichkeiten, das Unveränderte, zuweilen Weichgespülte, was die Orientierung bestimmt? Sind es Tauben und Schlangen, Reinheit und Klugheit, die unser Christsein ausmachen? Oder ist es ein Zoo physiognomisch changierender Tierchen, zwischen Schneckenschleim und Wolfsgeheul?

Immer mal werden aus pädagogischen Gründen die Märtyrer der Jahrtausende zum Vorbild für christliche Entschiedenheit „heute“ hingestellt. Das wirkt zuweilen fremd. Lassen wir uns nicht ablenken von den eigenen, jetzigen Herausforderungen, in denen sehr wohl Geradlinigkeit und Entschiedenheit gefragt sind: Wo nehmen wir Dinge hin, die wir nicht zu ändern beginnen, weil wir fürchten, dass unsere eigenen Ressourcen nicht ausreichen? Verzichten wir auf den Widerspruch aus Harmoniesucht, aus Bequemlichkeit, aus Feigheit? Berechnen wir uns selbst nicht etwa vom Imperativ der Nachfolge aus, sondern in den Grenzen unserer sozialen Kontexte und biologischen Beschaffenheiten, die wir auch als Grenzen unseres Vermögens anerkannt haben? Sind wir bereit, das Korsett abzulegen, das uns einen Schutz vor Veränderung verspricht, uns dabei aber zugleich hindert, für eine ehrliche Nachfolge frei zu werden? Ziehen wir es vor, uns auf die Macht der Tradition zu berufen und uns gerade nicht offen als Nachfolgerin und Nachfolger zu bekennen – und das auch außerhalb der schützenden Sonntagskirchenmauern? Das kann zu Brüchen und Konflikten führen – und Jesus fordert das heraus. Jesus ruft in unserem Text nach Entschiedenheit und nach konsequenter Infragestellung.

Wir können die Spannung nicht wirklich auflösen, in die die Nachfolge uns bringt, besser: die ernste Forderung zu einer echten Nachfolge. Sie führt in Konflikte und wird in Konflikte führen. In aller Deutlichkeit redet Jesus vom Kreuz in der Nachfolge, das ist eine ernste Botschaft und eine schwere. Sie fordert Entschiedenheit und Hingabe. Bei aller Entzweiung dürfen wir hoffen, dass die Nachfolge dessen, der die Liebe selbst ist, uns mit denen bleiben lässt, die wir lieben oder lieben wollen.
Amen

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