Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Friedensstiftung (Mt 5,9)


Predigt von Prof. Dr. Friedemann Stengel zum Semestereröffnungsgottesdienst am 11. April 2023

Liebe Universitätsgemeinde, liebe Stadtgemeinde, liebe Gäste,

seit Monaten hängt das Banner an der Marktkirche, unübersehbar, und dieser Ruf Jesu gehört sicher nicht nur in die Vergangenheit der großen Friedensdekaden in den 1980er Jahren in Ost und West und in die Schwerter-zu-Pflugscharen-Bewegung hier im Osten. Er gehört gerade in die unerbittliche Gegenwart zu dem Bekanntesten, das die Bibel zu bieten hat: Selig sind die Frieden machen, μακάριοι οἱ εἰρηνοποιοί (makάrioi oἱ eἰrīnopoioί), blessed are the peacemakers, Блаженні миротворці (blazhenni myrotvortsi), beati pacifici.

Ein kleiner Satz, irritierend in der Inanspruchnahme, in der Radikalität, in der Aktualität. Und schon in den Übersetzungen. Wo Luther Jesus rufen lässt: „selig seid ihr”, schreiben auf Deutsch die meisten heute „glücklich” oder „glückselig”. Merkwürdig emotional ist das, denn hier werden geistlich Arme, Leidtragende, Niedrige, nach Gerechtigkeit Dürstende und Verfolgte glücklich gepriesen – also solche, die man eher nicht mit irdischem Glück verbindet. Und dann: Wo in vielen Bibeln seit Luther auf Deutsch von der Seligkeit der Friedfertigen die Rede ist, heißt es griechisch, lateinisch, englisch, ukrainisch und russisch: Frieden machen, auf Spanisch gar: für den Frieden arbeiten (que trabajan por la paz). Das ist keine Haltung – es ist ein Handeln. Kinder Gottes werden die genannt werden, die so wirken, nicht die, die nur friedlich sind. Selig sind die pacifici, steht im Lateinischen. Ist das nicht eindeutig? Wenn das so wäre, würden wir nicht mehr streiten und nicht uneins sein. Ausgerechnet im Friedensruf.

Wir lesen die Botschaft in der Gegenwart und sind alles andere als eindeutig. Ich fürchte, dass das nichts Neues ist. Frieden ist nicht gleich Frieden und nicht gleich die Abwesenheit von Krieg. Bei den Römern herrschte zur Zeit Jesu die Pax Romana und die Friedensgöttin Pax wird oft mit einem gesenkten Speer dargestellt, als Siegerin, die gleich wieder losschlagen könnte. Sie steht für den überaus blutigen Siegfrieden, den der Diktator Augustus errungen hatte, in dessen Regentschaft Jesus geboren ist. Es ist kein Zufall, dass einer der Nachfolger des Augustus in Rom einen Friedenstempel (templum pacis) errichten ließ, nachdem er Jerusalem erobert und im Jahre 70 den Tempel zerstört hatte. Und Peacemaker steht nicht nur in der Bergpredigt. Peacemaker ist auch der Spitzname des Colt Single Action Army, seit 1873 mit Unterbrechungen auf dem Markt.

Pax, Frieden, Mir, Peace – das Wort spricht nicht für sich selbst und steht nicht für sich selbst. Wie alle unsere Wörter ist es kein unschuldiges Wort, es ist historisch, es gerät in falsche Hände und wird auch mit bösen oder falschen Zungen gesprochen, es wird zynisch gebraucht wie der Peacemaker-Colt, dessen andere Spitznamen Widowmaker oder Equalizer lauten. Für den Frieden gehen Leute auf die Straße, oft auf verschiedenen Straßenseiten, sie gehen aufeinander los, ins Gefängnis, manchmal in den Tod. Kriegsdienstverweigerer haben das zu allen Zeiten getan. Im Kriegsfall waren es immer wenige, in der jüngeren Vergangenheit die weitaus meisten von ihnen Jehovas Zeugen, darunter mindestens 250 Hingerichtete 1939 bis 1945, bei fünf protestantischen und nur wenig mehr katholischen Verweigerern im Zweiten Weltkrieg.

Vielleicht liegt das daran, dass in der Geschichte des Christentums immer wieder betont worden ist, Jesus habe ja nur zu seinem inner circle, den Jüngern und den hier ungenannten Jüngerinnen, gesprochen und nicht zur Welt. Solche Relativierungen werden nicht selten vorgenommen, wenn es um Interessen geht. Und um die geht es immer. Auch jetzt.

Wer spricht von Frieden, dem kleinen Wort mit so gewaltigen Dimensionen! In wessen Sinn soll für den Frieden wie gearbeitet werden? Und was ist dafür nötig? Wie unterscheiden wir zwischen den vielen Stimmen, die alle Frieden beanspruchen, behaupten, fordern? Wir erleben dieser Tage, keinesfalls das erste Mal, aber vielleicht wie noch nie zuvor in den letzten Jahrzehnten, wie sehr uns das Thema Frieden irritiert, durcheinanderbringt und spaltet.

Vor nun schon 15 Jahren hat die EKD in einer bekannten Denkschrift die Rede vom „gerechten Frieden“ eingeführt und dadurch „Frieden“ und „Gerechtigkeit“, aber eben auch Recht miteinander verbunden. Denn der alttestamentliche Begriff eines Schalom meint auch mehr als das Ende von Krieg. Schalom meint ein schöpferisches Miteinander von Menschen, die sich gegenseitig unterstützen, füreinander da sind und die eine enge Gemeinschaft mit Gott leben. Wer das schafft, der mag nicht nur glücklich sein, sondern auch selig. Wir bitten „Dein Reich komme“, um ein Gottesreich, in dem als einziges der Frieden herrscht, in dem die Leid Tragenden getröstet und die nach Gerechtigkeit Dürstenden satt werden. Dass wir um dieses Reich bitten, heißt ja gerade nicht, dass wir es ans Ende der Welt verschieben.

Die Rede vom gerechten Frieden will die Rede vom gerechten Krieg vertreiben, der so lange auch die christliche Tradition beherrscht hat. Kein Krieg, in dem Zivilisten und Wehrpflichtige zu Tode kommen, kann jemals gerecht sein. Ein christlicher Krieg ist so selten wie ein Storch im Winter, hat Luthers Zeitgenosse Sebastian Franck in seinem „Kriegsbüchlin des Friedes“ gesagt und wie Erasmus von Rotterdam nur die Selbstverteidigung überhaupt als Gewaltanwendung zugelassen. Die UNO-Charta enthält ganz bewusst das Wort Krieg nicht, sondern stattdessen ein Recht auf Selbstverteidigung. Schließen wir uns diesem Recht an?

Pazifistinnen oder Peacemaker sind vieldeutig und keinesfalls trifft die absolute Waffenlosigkeit auf alle Pazifisten zu. Manche beanspruchen, manche bestreiten Pazifismus und manche, die ihn beanspruchen, sprechen es anderen ab. Es gibt keine einfachen Lösungen und wir müssen doch etliche Knoten aufschnüren, die uns bei diesem Thema umtreiben. Schnell wird mit Schlagwörtern hantiert. Ein Theologieprofessor und ehemaliger Generalsuperintendent bezeichnet Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine als Bellizisten und Militaristen. Ein anderer kennt gegenüber Waffenlieferungsverweigerern nur Waffensegner und Kriegstreiber. Wieder andere meinen, für die Demokratie sterben, aber nicht töten zu wollen – obwohl doch unser Leben gar nicht bedroht ist, sondern das der Menschen in der Ukraine. Gegen die Waffenlieferungen wird das Gebot der Feindesliebe vorgebracht. Wie kann man dieses Argument anders deuten, als dass die Ukrainer und Ukrainerinnen sich nicht verteidigen, sondern sich ihren Feinden ergeben sollen!? Denn unsere Feinde sind die russischen Soldaten ja gar nicht. Umgekehrt werden Waffenlieferungsgegner als naiv, von gestern und gar als zynisch bezeichnet. Da sind auch manche, die in Putin das physische Wirken des Teufels erblicken und das genau so sagen.

Wie will, wie kann man bei solchen Zuschreibungen auf einen Nenner kommen? Die Positionen sind gegensätzlich, nicht zu reden von denen, die die öffentliche Berichterstattung ohnehin für Lügenpresse und die furchtbaren Massaker für gefälscht halten und ausgerechnet in der russischen Staatsform gegenüber den Demokratien nach wie vor irgendetwas Gerechteres erblicken wollen.

Jesus sagt: Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder genannt werden. Und, wenig später: du sollst auch deinen Feind lieben und die andere Wange hinhalten. Das ist und bleibt bestehen und wir werden kein Jesuswort finden, mit dem wir Waffenlieferungen biblisch rechtfertigen können. Stecke dein Schwert in seine Scheide, sagt Jesus zu dem, der das Schwert zieht, zum Aggressor also, der auch durch das Schwert umkommen wird. Dürfen wir den Angegriffenen Hilfe zur Selbstverteidigung geben, bevor das Ohr abgehauen ist? Und vom barmherzigen Samariter, dem Urbild christlicher Barmherzigkeit, wissen wir eben nicht, was er tut, wenn er dazu kommt, als der Mann überfallen und halb tot geschlagen wird. Greift er ein? Und wirft dem Opfer vielleicht ein Messer zu? Oder sieht er zu, um selbst keine Gewalt anzuwenden und dem Rad nicht in die Speichen zu greifen, aber das Opfer dann unter dem Rad zu verbinden, falls es überlebt?

Jesus ruft dazu auf, die andere Wange hinzuhalten. Vielleicht ist das die schwerste aller Zumutungen. Es geht daher nicht an, Kriegs- und Waffenverweigerer zu verhöhnen oder zu beschimpfen. Aber geht es an, sich nicht einzumischen, damit der Feind des Opfers geliebt werden kann, während das Opfer stirbt oder vergewaltigt wird? Es ist hochehrenwert, sich nicht zu verteidigen, den Feind dadurch zu verstören, wie Margot Käßmann sagt, sich eher auszuliefern, vielleicht auch töten zu lassen, als andere zu töten. Aber haben wir wirklich das Recht, das auch von anderen zu verlangen? Und das auch noch 2.000 km entfernt, als Unbetroffene? Und dürfen wir den Angegriffenen Waffenhilfe verweigern, um sich dem eigenen Tod und dem Tod der Angehörigen entgegenzustellen? Du sollst nicht töten, heißt es, aber heißt es damit nicht auch: Du sollst nicht töten lassen?

Die Entscheidung, sich der Situation des Tötens zu entziehen und zu fliehen, muss es für jeden und jede geben. Dass Kriegsdienstverweigerung in vielen Ländern heute möglich ist und geschützt wird, ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Das muss auch für alle gelten, die sich in diesem brutalen Angriffskrieg dem Töten verweigern, egal auf welcher Seite. Es ist eine persönliche Entscheidung. Aber können wir diese Verweigerung auch von allen fordern? Und die Hilfe zur Selbstverteidigung verweigern? Ich vermag es nicht, so sehr alle Formen von Verhandlungen immer den Vorrang haben müssen.

Selig sind die Friedensstifter! Wie gehen wir damit um, dass wir nicht einer Meinung sind? Sicher sollten wir darauf verzichten, andere als Militaristen und Bellizisten oder Zyniker zu titulieren. Und sicher müssen wir uns bemühen, die von Gewalt Betroffenen überhaupt in unsere Argumentationen einzubeziehen und sie nicht einfach unseren Prinzipien unterzuordnen, wo wir doch wissen können, dass Waffen eben nicht nur töten, sondern auch verteidigen und schützen können, auch wenn sie niemals das Maß unseres Handelns und Denkens sein dürfen. Aber wie leben wir mit dem Dissens zwischen uns!? Hier scheint mir eine Zukunftsaufgabe zu liegen, für eine Gesellschaft und eben auch Kirche, die den Wunsch nach Konsens nicht mit Harmonismus verwechselt. In der ertragen wird, dass wir nicht einer Meinung sind, und ohne alles zu relativieren, vor allem dort, wo Opfer und Täter vermischt, wo Recht und Unrecht, Demokratie und Diktatur gleichgesetzt werden. Und wenn es doch manchmal so schwer erscheint, die Wahrheit zu erkennen, lassen wir uns auch vom geltenden Recht leiten? Wir sollen uns auch nicht damit herausreden, man könne das alles nicht unterscheiden, und, um den Spruch dieser Zeiten zu zitieren: Die einen sagen so, die anderen so! Einer, von dem ich es eher nicht erwartet habe, hat kürzlich gesagt: Man schweigt sich auseinander. Und man diskutiert sich zusammen. Das ist ein Idealfall. Was ist, wenn gerade das nicht geschieht? Schaffen wir es dennoch, nach der Wahrheit zu suchen und unsere Prinzipien nicht um der Prinzipien, sondern um der betroffenen Menschen willen gelten zu lassen?

Und Gott, der Allmächtige, dessen Liebe stärker ist als alle unsere Kraft, dessen Vernunft höher ist als alles, was wir verstehen, dessen Weisheit, dessen Wille und dessen Reich leite uns in allem, was wir unternehmen und leben – zum Frieden.
Amen

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