Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Himmlische und irdische Körper (1. Kor 15,35-58)


Predigt von Kirchenpräsident Joachim Liebig im Universitätsgottesdienst zum ersten Advent am 3. Dezember 2023

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Es ist ein Phänomen, von dem Viele wissen. Und dennoch ist es nicht erforscht: Wenn der Tod das Ende von Krankheit bedeutet, wissen die Sterbenden drei bis fünf Tage vor dem Tod, dass ihr Leben nun ein Ende haben wird. Alle hinhaltenden Tröstungen versagen an dieser Gewissheit, die Menschen dann offensichtlich erfasst.

Drei Tage vor seinem Tod fragt mich mein Vater: „Stimmt es, was du predigst?“

Mein Vater – Jahrgang 1922 – Kriegsteilnehmer von 1939-1945 und dann drei Jahre Gefangenschaft, schon in seiner Jugendzeit dem Tod häufig sehr nahe gewesen. Wir haben nie über das Sterben gesprochen. Selbst als wir gemeinsam nahe Verwandte zu Grabe getragen haben. Aber dann, drei Tage vor seinem Tod diese Frage.

Und ich antworte: „Ja!“

Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.

So haben wir es eben aus dem ersten Brief an die Korinther gehört.
Predigen wir so?
Glauben wir so?

Dazu drei Anstriche:

Erstens: Glauben wir so? Predigen wir so? Nein!

Als ich in den siebziger Jahren mit dem Studium der Theologie begann, erlebte ich den Aufstieg der sogenannten öffentlichen Theologie. Seitdem haben wir uns gleichermaßen in Ost und West im deutschen Protestantismus theologisch mit allen möglichen Fragen befasst. Und ohne jeden Zweifel, zu Recht gibt es eine öffentliche Verantwortung der Kirche, genau genommen des Glaubens. Es ist in jeder Form zurückzuweisen, den Glauben zu individualisieren. Genau das haben die Religionskritiker der Neuzeit stets versucht und tun es weiter. Glaube ist höchst individuell und er ist zugleich höchst öffentlich. Das ist vollkommen unstrittig. Und dennoch war der Schwerpunkt der öffentlichen Theologie falsch. Es war nicht immer erkennbar, ob dieser Schwerpunkt gedeckt war durch einen persönlichen Glauben und eine persönliche Frömmigkeit. Im Ergebnis gilt die evangelische Kirche – vielleicht die Kirche insgesamt – wenigstens in unserem Land und unserer Region als eine Art „Werteagentur“. Nicht zuletzt die hiesige Landesregierung verknüpft diesen Gedanken noch mit dem Vorwurf, genau dafür erhielte die Kirche ja Staatsgelder.

Selbstkritisch muss ich hinzufügen, wie ich mich in annähernd 40 Dienstjahren frage, ob ich bei den etwa 1500 Beerdigungen meines Pfarrdienstes immer die Auferstehung gepredigt habe. Welcher Trost sollte allerdings sonst bestehen, wenn wir im Angesicht des Todes oder am Sarg eines Menschen uns nicht darauf verließen, wie Gott das irdische Leben überwindet und dem irdischen Körper einen geistlichen Körper folgen lässt? Auch wenn es völlig eindeutig ist, wir können uns diese Gedanken - natürlich - nicht vorstellen, sie sind ein Faktum des Glaubens. Das aber kann uns nicht davon abhalten, zu vertrauen. Alles andere wäre hoffnungslos, trostlos!

Haben wir, habe ich das genügend betont?
Als ordinierter Pfarrer werde ich dafür vor dem Richterstuhl Jesu Christi Verantwortung zu übernehmen haben. Und das ist keine leicht zu tragende Verantwortung.

Zweitens: Wie ist es nun mit Menschen, denen jede Religiosität im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen völlig fremd ist?

Wir werden zukünftig Argumentationsgänge eingeleitet hören mit dem Satz: „Wie die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung unzweifelhaft feststellt …“. Diese gerade vorgelegte Mitgliedschaftsstudie erweist tatsächlich ziemlich eindeutig, die Zahl der Menschen, die keinerlei Beziehung zur Religion im Allgemeinen oder gar zum Christentum haben, wächst beständig. Und es war und ist missionstheologisch völlig abseitig, Menschen ohne eine religiöse Affinität a priori ein Defizit unterstellen zu wollen.

In einer ähnlichen Situation, in der mich mein Vater fragt, frage ich am Sterbebett einen engen Freund ohne kirchliche Bindung: „Darf ich für dich beten?“

Und er antwortet: „Wenn es Dir hilft!“

Wer bin ich, ihm dann im Angesicht seines Todes noch ein Defizit unterstellen zu wollen?

Insofern ist die theologische Situation aus meiner Sicht vollkommen eindeutig: Wir leben in einer geradezu neutestamentlichen Situation. Es ist nicht länger die Kirche als Institution, die auch Bekenntnisse trägt. Es ist vielmehr jeder einzelne Christenmensch, der auf die Frage nach seinem Glauben glaubwürdig Antwort geben muss. Damit trägt – natürlich - jeder Glaubende die Kirche. Und zwar sowohl in Fragen der öffentlichen Theologie, also in Fragen der individuellen und gesellschaftlichen Ethik, als auch in den existenziellen Fragen des eigenen Lebens. Wir müssen zu aller Zeit bereit sein, Rechenschaft über unseren Glauben zu geben. Jede Flucht ins verallgemeinerbar Binsenhafte ist ein Verrat an diesem Gedanken.

Drittens: Für die Kirche hat das weitreichende Konsequenzen, die vermutlich grundlegende Veränderungen mit sich bringen werden. Wenn die „Institution“ schwächer wird und damit die „Organisation“ kirchlichen Tuns in der Gesellschaft geringer, dann werden wir wieder Elemente von „Bewegung“ übernehmen müssen. Ganz so, wie es die erste Jüngerschaft in ihrer Bewegung um Jesus Christus herum zeigt. Unter der Vorgabe, es geht am Ende immer um ein persönliches Glaubenszeugnis.

Nicht nur reaktiv – gewissermaßen auf Anfrage – sondern in fröhlicher Gelassenheit lebensprägend.

Wenn das die Zukunft der Kirche ist, kehrt sie zurück an ihre Wurzeln. Ob es dazu eine erneute Reformation braucht, mag an anderer Stelle geklärt werden. Persönlich sehe ich eher eine Art evolutionären Prozess voraus, in dem die Betonung persönlichen Bekenntnisses – hier ganz auf der Linie August Hermann Franckes und doch ganz anders – immer bedeutsamer werden wird.

Seelsorge und Predigten, Diakonie und jede Art öffentlicher Äußerung von Kirche wird unter dem Gesichtspunkt zu sehen sein: Steht dahinter ein Mensch oder eine Gemeinde oder eine Synode, der die Intensität persönlichen Glaubens abzuspüren ist oder sind es fromme Leerformeln?

Ist Kirche dann ein geistlicher Körper oder ein weltlicher – gewiss beides zusammen, aber die Balance zwischen beiden gilt es neu zu justieren.

Nachtrag:
Und mein Vater? Drei Tage nach seiner Frage an mich stirbt er ruhig. Ich kann nicht sagen, ob es an meiner Antwort lag oder es andere Gründe hatte.

Ich werde ihn fragen!

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen

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