Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Mauerfall (Josua 6,1-21)


Predigt von Dr. Conrad Krannich im Universitätsgottesdienst am 9. Juli 2023

»Wie die Wächter auf den Morgen, so wartet meine Seele auf den Herrn, wartet auf Erlösung.« (HuT 261 – Lied vor der Predigt) – Rahabs Worte waren das nicht und könnten es doch gewesen sein. Denn Rahab gehört zu denen, die in Jericho ausharren, während die einen die Stadt zur Festung hochrüsten und die anderen sie mit tragbarem Heiligtum und „Posaunen“ feierlich umschreiten.

Jericho ist eines der letzten Hindernisse, das die aus der Gefangenschaft zurückgeführten Israeliten vom Gelobten Land trennt. Auch dieses Hindernis werden sie überwinden.
Noch bevor Josua und das Volk die Stadt Jericho belagern, schleusen sie Kundschafter in die Stadt ein. Und die landen auf ihrer Erkundungstour im Haus der Hure Rahab – wie die Bibel schreibt – direkt an der Stadtmauer.
Rahab versteckt die Männer. Als sie sich gerade schlafen legen, steigt sie zu ihnen aufs Dach und sagt: »Ich weiß, dass Adonaj euch das Land gegeben hat, euer Gott ist Gott oben im Himmel und auf Erden […] Schwört, dass ihr meine Familie am Leben lasst.« (Jos 2,9bff) So soll es sein, wenn es so weit ist.
Noch ist es nicht so weit. Aber die blutrote Zukunft breitet sich als Unruhe schon in den Gassen der Stadt aus. Jericho ist klein; der Stadtherr weiß um die Fremden in seiner Stadt und stellt ihnen nach. Rahab weist seine Schergen in die Irre, in die Nacht. Die Kundschafter aber seilt sie an einem roten Seil an der Mauer hinab und hinaus in die Freiheit.
Dieses rote, ins Fenster geknüpfte Seil soll später das Erkennungszeichen dafür sein, Rahabs Haus zu verschonen (Jos 2,18). An einem roten Seil hängt ihre ganze Hoffnung. Und dann nehmen die Dinge ihren Lauf.

Ich erinnere mich an das Anspiel in der Christenlehre von der Eroberung und Zerstörung Jerichos. Wahrscheinlich war’s die Fokussierung auf die andere Mauer, die in den späten 1980er Jahren das Interesse an der Josua-Geschichte geweckt und solche Anspiele hervorgebracht hat.
Ein Kind schlüpfte in die Rolle Josuas, und die anderen Kinder waren all die anderen Kinder, Menschen, Frauen und Männer, die auf beiden Seiten der Mauer Jerichos der Dinge harren. Ein bisschen Geduld, ein bisschen Krach und zack, da war die Mauer weg. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sind heute bestimmt alle sehr, sehr glücklich und wieder Freunde – hofften wir damals in der Christenlehre. Von Rahab und Hurenhäusern aber erzählte niemand etwas, und auch nicht von der Gewalt des Krieges. Die Hoffnung auf das Ende der Mauer wies damals der Aufmerksamkeit den Weg.
Heute fällt anderes ins Auge: Zum Beispiel dass die für die Jüngsten in niedliche Anspiele übersetzte Josua-Geschichte kein Kinderspiel ist, sondern ein Stück Auseinandersetzung mit knüppelharter Kriegsideologie.
Eine Stadt nicht nur zu zerstören, sondern mit allem und allen, die in ihr leben, zu vernichten – das war Teil der Kriegspraxis. Eine Kriegspraxis, die keine Gefangenen und keine Beute macht, sondern alles der Gottheit übereignet, das heißt: tötet.
Auf einer 3000 Jahre alten Stele rühmt sich der moabitische König Mescha, auf diese Weise ganze Ortschaften in der Jordanebene ausradiert und seinem Gott Kemosch geweiht zu haben.
»Vernichtungsweihe« haben Religionsgeschichtler diese Form der Kriegsführung genannt. Vernichtung und Weihe – da klafft der Abgrund bis ins Wort hinein. Es ist grausam. Und schwer zu finden ist der rote Faden des guten Gottes, an dem wir uns entlang hangeln können und heraus aus der Geschichte geheiligten Krieges?

Ob das biblische Israel auch solche Kriege geführt hat wie Mescha von Moab, wissen wir nicht. Das Josua-Buch erzählt es, aber die Archäologie spricht dagegen. Die Einnahme Jerichos hat vermutlich nicht so stattgefunden wie geschildert: Mauern, Rampen und Glacis – solche Wehranlagen sicherten Jericho in der Mittleren Bronzezeit.
Jahrhunderte später, zum Zeitpunkt, da die Geschichte spielen soll, war das alles aber längst zerstört. Am Ende war es gar kein Krieg, dem die jahrtausendealte Stadt zum Opfer fiel, sondern Erdbeben und Feuersbrunst.
Die Einnahme des Landes zwischen Jordan und Mittelmeer fand nicht als einmalige kriegerische Landnahme statt. Das biblische Volk und Land Israel entstehen in einem langen Prozess von Weidewechsel und Sesshaftwerdung, von De- und Re-Urbanisierung, von Einwanderung und Abgrenzung.

Was ist es dann, was wir uns an diesem Sonntagmorgen mit dieser Geschichte zumuten?
»Joshua fit the battle of Jericho«, swingt der bekannte Spiritual. Es war ein Kampf und kein Kinderspiel, den das Josua-Buch verarbeitet, ein Kampf um Deutungshoheit. In der subversiven Deutung der Geschehnisse erwies das mal mehr, mal weniger freie Israel seine Stärke, denn militärisch besaß es diese nie.
Im ersten Jahrtausend vor Christus geht das Heilige Land durch militärische Abenteuer und falsche Allianzen verloren. Ohne Land und ohne Autonomie und getrieben von der Verzweiflung darüber, wie es nur dazu kommen konnte, gewinnen die Erzählungen von der Landnahme Gestalt. Sie sind auch eine Vernichtungsfantasie der Opfer, gemalt in den gleichen grellen Farben der Kriegspropaganda der wirklichen Großmächte von damals.
Spätere Generationen flechten dann ihre Idee von Gottesfurcht als Gesellschaftsprogramm in die Josua-Geschichte ein: »Alles, was euch von Gott trennt« – sagen sie – »das sollt ihr aus eurer Mitte tilgen. Keine Mischehen, keine Vielgötterei!« Nur so lasse sich das Land halten, sagen sie. Zum erzählerischen Platzhalter für die Verführung zum Abfall wird in der Bibel Kanaan mit seinen Göttern und Lebensweisen und so auch die kanaanäische Stadt Jericho.
Wer die vielen Fäden, die in der Geschichte von der Eroberung Jerichos verflochten sind, sortiert, stößt auch auf eine demütige Pointe, und die lautet: Wenn Gott Dir das Land geben will, dann wird Er das tun. ER wird das tun, nicht durch Heer oder Kraft – ein Posaunen-Septett und die heilige Kiste reichen aus. Nicht Du nimmst das Land ein, sondern Gott. Nicht Dir gehört das Land, sondern Ihm. Ihm allein. Benimm dich entsprechend.
Was ist das, was wir uns mit der Geschichte vom Fall Jerichos an diesem Sonntagmorgen zumuten? Es ist ein Stück erzählte Vergangenheitsbewältigung. Es ist der in politisch auswegloser Situation formulierte Traum von Eigenständigkeit. Es ist eine Erzählung, die aller militärischen Logik einen 7tägigen Gottesdienst mit dem mächtig Handeln Gottes als krönendem Abschluss entgegensetzt. Denn Menschen lassen sich nichts sagen, aber alles erzählen.
Verwoben in die Erzählungen ist der zarte rote Faden der Rettung – zart aber belastbar wie ein Seil. Viele Träume lassen sich daran knüpfen. Viele Freiheitsträume wurden daran geknüpft. »Joshua fit the battle of Jericho« …

Irgendwo auf der Welt trägt sich diese Geschichte gerade genau so zu – die erzählte Geschichte und auch die Geschichte der Erzähler:innen. Die Realität ist grausamer als jede Fiktionalisierung. Und die Wirklichkeit – alles, was wir in der vergangenen Woche schon wieder aufgesammelt haben an schlechten Nachrichten aus dieser Welt – das verknüpft sich an diesem Sonntag mit diesem Text.
Irgendwo harren Menschen auf beiden Seiten der Mauern. Irgendwo blühen unter den Vernichtungserfahrungen die Vernichtungsfantasien. Irgendwo wird gerade wieder in einem Gotteshaus Gott für die eigene unmenschliche Sache in Anspruch genommen. Und allzu oft findet das nicht nur da draußen in der Welt statt, sondern in mir: das Verbarrikadieren und das Hochrüsten, die Rechtfertigung von Gewalt und der kurze Vergeltungstrost.
Der rote Faden der Rettung aber, der hängt aus Rahabs kleinem Haus an der Mauer der umkämpften Stadt.
»Rahab ist Noah«, schreibt Birgit Mattausch. »[Ihr Haus an der Mauer ist eine Arche. /] Wenn die Welt untergeht, die Sintflut kommt – / und der böse Engel mit tausend Schwertern Gesichtern Posaunen laut (nicht leise, wie sein Bruder kam, in Ägypten zu töten alle Erstgeburt) – dann überleben nur die im Haus an der Mauer. / Der Engel erkennt sie am roten Seil. / Rot wie das Blut der Passalämmer und das Blut, das Rahab einmal im Monat die Beine hinunterläuft. Rot wie Lydias Purpurstoffe. Wie die Feuerblüten des Dornbusches am Sinai. / Zieh deine Schuhe aus, böser Engel, ab hier ist heiliges Land.«1
Rahab hat die Mauer von Jericho eingerissen, die kanaanäische Prostituierte, die unter ihrem weiten Herzens-Dach ihre kleine große Schicksalsfamilie sammelt, die »zum ersten Mal […] Gottes Namen [… sagt als] Andere im Ander-Land« (Birgit Mattausch). – An ihr zerfasert das schwarz-weiße Konzept heiliger Gewalt.
Rahab, die Überlebende – Mann überliest sie so leicht in dem Drama. Dabei ist sie es, über die ein zarter roter Faden läuft, hinaus aus dem kleinen Haus in Jericho, hinaus aus der Geschichte und ihrer Binnenlogik, durch die Stammbäume unserer biblischen Urahnen hindurch bis hin zu Jesus. (Matthäus erwähnt Rahab als Ahnin Jesu, und die rabbinische Schriftauslegung verehrt sie.)
Gott kommt zwischen den großen Visionen, Siegen, Niederlagen zur Welt, immer wieder, als Überlebende.

1 Birgit Mattausch, 17. Sonntag nach Trinitatis Josua 2,1–21, in: Denkskizzen zur ersten Perikopenreihe (hg. v. Petra Bahr), Stuttgart 2018, S. 255–257.

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