Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Seelendurst (Ps 42)


Predigt von Stiftungspfarrerin Gabriele Zander zum Universitätsgottesdienst am 5. November 2023

Lied vor der Predigt: Da wohnt ein Sehnen tief in uns

Liebe Universitätsgemeinde, liebe Laurentiusgemeinde, liebe Gäste!

Sehnsucht nach Gott - nach Frieden, nach Freiheit, nach Glück, nach Liebe.„Es ist ein Sehnen, ist ein Durst“ - Seelendurst!
Durst nach so vielem, das wir eben miteinander besungen haben. Auch die Psalmen sind Lieder der Sehnsucht. „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit und dürstet meine Seele nach Gott.“ Ein großes Lied der Sehnsucht nach dem lebendigen Gott - ein Hoffen auf Gottesbegegnung- trotz der Gottesferne, angesichts des Schweigens Gottes- unendlicher Schmerz wird in diesem Psalm spürbar.

Das ist es auch, was die Psalmen so wertvoll macht: dass gerade der Schmerz Worte findet, dass die Wirklichkeit benannt wird, dass den Stummen und Verwundeten eine Sprache geschenkt wird. Und damit sprechen die Psalmen mitten hinein in unsere Zeit: zu denen, die sich ausgetrocknet und ausgebrannt fühlen, die schon alle Kräfte verbraucht haben - und zu denen, denen das Wasser bis zum Halse steht. (V8!) Der Psalm beschreibt beides als bedrohlich: die Dürre und die Überflutung.

Beides erleben wir auch gerade in unserer Welt angesichts des Klimawandels: ganze Landstriche, die verdorren und zur Wüste werden und andere Teile unserer Erde, in denen Menschen von Wassermassen überflutet werden. Und wir kennen beides eben auch als Seelenzustände: und nicht selten geht sogar beides zusammen: das Gefühl von all den schlimmen Nachrichten überschwemmt zu werden und gleichzeitig das Gefühl auszubrennen angesichts der eigenen Hilflosigkeit!

Hätte nicht schon der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gereicht? Muss jetzt auch noch ein Krieg in Nahost dazukommen - mit all den schlimmen Auswirkungen, die dieser Krieg bis zu uns hin hat: Antisemitismus, Angst von Jüdinnen und Juden, hier zu leben, aber auch Islamfeindlichkeit, der Kampf um Narrative und Deutungshoheit.

Und immer wieder die grausamen Bilder - sowohl aus Israel als auch aus Gaza.

„Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht“ - als eine, die lange in Jerusalem gelebt und sich in einigen israelisch - palästinensischen Dialogorganisationen engagiert hat, sind mir diese Worte aus der Seele gesprochen.

Trauer und Hilflosigkeit - Momente, in denen mir das Essen im Halse steckenbleibt, in denen die Kehle wie zugeschnürt ist.
„In der Welt gibt es kein Echo für die Qual und den Aufschrei der Menschen“, hat der jüdische Religionsphilosoph Abraham Jehoshua Heschel einmal gesagt.
„In der Welt gibt es kein Echo für die Qual und den Aufschrei der Menschen.“

Ja, doch, ich denke, es gab sie, die Anteilnahme mit den Gemordeten in Beeri, Kfar Azza, Nir Oz und mit den noch immer gefangenen Geiseln in Gaza und auch mit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza, von denen schon viele ihr Leben gelassen haben oder jetzt unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. Und doch beklagen auch viele die mangelnde Empathie…

Und ich stimme zu: es ist kaum möglich, das Leid zu ermessen, das Menschen gerade durchmachen, deren Angehörige noch in Geiselhaft sind, oder deren Angehörige in diesem grausamen Krieg getötet wurden- in Israel, in Gaza, und auch in der Ukraine und an anderen Orten, von denen wir nur wenig hören.

In den Psalmen wird diesen Menschen eine Sprache geschenkt. „Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht.“ Unser Psalm ist ein Lied der Kinder Korachs oder für die Kinder Korachs - die Übersetzung ist hier nicht ganz eindeutig. Mit den Kindern Korachs hat es etwas Besonderes auf sich.

Vielleicht erinnern Sie sich: Korach hatte mit seinen Söhnen den Aufstand gegen Mose gewagt: „Kannst Du denn allein für Gott reden?“ hatte Korach Mose herausgefordert und damit so etwas wie die „Prophetie aller Gläubigen“ beansprucht. Aber Gott hatte sich eindeutig auf die Seite des Mose gestellt, und unter Korach und seinen Kindern öffnete sich die Erde, und sie wurden von ihr verschlungen.

Warum nun ein Lied der Kinder Korachs oder für die Kinder Korachs?
Manche jüdische Bibelausleger sagen, dass die Korachpsalmen eben in dem Moment geschrieben wurden, als diese vom Erdboden verschluckt wurden, um sie nicht stumm untergehen zu lassen, sondern ihrem Leiden eine Sprache, eine Stimme zu geben. Das heißt auch, dass diese trotz ihrer Bestrafung, ihrer Not und ihrem Leiden an ihrem Gott festhalten. Und tatsächlich werden die Korachiten später in der Bibel rehabilitiert: in den Büchern der Chronik werden sie zu Wächtern und Sängern am Tempel Gottes! Die Korachiten sind eben doch nicht ganz untergegangen: ihre Stimme lebt weiter. Fast ist es, als ob sich mit ihrem Weiterleben auch Gott selbst geändert habe...

„In der Welt gibt es kein Echo für die Qual und den Aufschrei der Menschen“, sagt Abraham Jehoshua Heschel. Um dann weiterzusagen: „Aber Gott hört.“
„Aber Gott hört“ - das ist die große Hoffnung der Psalmen, des biblischen Gebetsbuchs, das wir jeden Tag lesen und rezitieren sollten.

„Wo ist dein Gott?“ ist die Frage, die hier zweimal in unserem Psalm wiederholt wird.
„Wo ist Gott?“ in allem, was hier geschieht?

Einer meiner palästinensischen Kollegen schrieb vor einigen Tagen als Antwort auf diese Frage: „Gott ist unter den Trümmern.“ Und er differenzierte nicht, unter welchen Trümmern: unter denen in Gaza oder unter denen in den Kibbuzim. Gott ist unter den Trümmern, die menschliche Gewalt zu verantworten hat: auch in der Ukraine und an vielen anderen Orten.

Das biblische Wort für „Seele“/Nefesh hat in der Bibel mehrere Bedeutungsfacetten: Zunächst steht es für ein konkretes Körperteil: den Rachen oder die Kehle als Organ der Nahrungsaufnahme und der Atmung. Insofern zeigt es den Menschen in seiner Bedürftigkeit! Als Menschen sind wir darauf angewiesen, dass wir von außen Luft, Wasser und Nahrung bekommen.

Und: durch unsere Kehle dringen auch die Befindlichkeiten unserer Seele nach außen: Jubel, Klage und Weinen, Angst und Wut, Laute unterschiedlichster Empfindungen und Seelenzustände. Jede Kommunikation, jedes Gespräch geht durch unsere Kehle. Durch die Kehle tritt ein Mensch aus sich heraus, übersteigt sich selbst, tritt in Kommunikation mit dem Außen, zeigt sich seine und ihre Angewiesenheit auf andere.

Im Schöpfungsbericht wird der Mensch erst dadurch zu einem lebendigen Wesen, dass Gott ihm den Atem des Lebens einhaucht. So wird nefesh/Seele an anderen Stellen der Bibel auch mit „Lebenskraft, Lebendigkeit“ ja dem „Leben“ selbst übersetzt.

In den Franckeschen Stiftungen war vor zehn Tagen anlässlich der Halle Lectures die französische Philosophin Corine Pelluchon zu Gast. In ihrer Philosophie tritt sie für ein neues Zeitalter der Lebendigkeit ein. Dabei geht es ihr in ihrer radikalen Ökologie um ein Wahrnehmen der Körperlichkeit des Menschen, der eben Luft und Wasser zum Leben braucht und sich deswegen in der Abhängigkeit von seiner Umwelt erkennen muss. Alle Geschöpfe seien miteinander verbunden. So lese ich auch den Schöpfungsbericht: der Atem Gottes verbindet alle Geschöpfe!

Immer wieder redet die Bibel außer vom Atem Gottes auch von Gott als der Quelle lebendigen Wassers! So auch im Gespräch Jesu mit der Samaritanerin, das wir eben in der Lesung gehört haben. Am Anfang des Gesprächs wird deutlich, dass Juden und Samaritaner eigentlich nicht miteinander reden. Das hat seine Ursache in lang zurückliegenden Streitigkeiten um den jüdischen Tempel. Aber Jesus und die Samaritanerin am Jakobsbrunnen durchbrechen hier diese alte Feindschaft, indem sie einfach von Mensch zu Mensch miteinander reden- an einem besonderen Ort: dem Jakobsbrunnen - einer Wasserquelle mit einer alten Tradition, die beide verbindet, beiden lebensnotwendiges Wasser spendet.

Der Prophet Jesaja verheißt seinem Volk, dass es selbst zu einer Wasserquelle oder wie ein bewässerter Garten werden kann, „wenn es niemanden in seiner Mitte unterjocht, nicht mit Finger auf jemanden zeigt und nicht übel über jemanden redet, sondern den Hungrigen sein Herz finden lässt und den Elenden sättigt.“ Das ist der Weg, der vom „Schema der Herrschaft“ - von dem Corine Pelluchon uns gegenwärtig bestimmt sieht, von der Diskreditierung und Diffamierung anderer Menschen, vom Hass, der leider in unserer Gesellschaft immer lauter wird, hinführt zu einer „Kultur der Wertschätzung“ des Lebens, der Lebendigkeit, der Vielfalt und der Verbundenheit alles Lebendigen!

Der deutsche Dichter Friedrich Hebbel hat einmal gesagt: „Wenn alle Menschen sich bei der Hand fassen, ist Gott fertig.“

Jesus spricht auch davon, dass diejenigen, die das lebendige Wasser empfangen, selbst zu einer Quelle werden, die ihrerseits Wasser hervorsprudeln lässt. Dass eine Quelle nur für sich selbst da wäre, ist absurd. Eine Quelle spendet Wasser für alle Menschen, die zu ihr kommen.

Wie schaffen wir es, gut mit der Lebensquelle in Verbindung zu bleiben, um zur Quelle für andere zu werden?
Ich denke, es ist wichtig, dass jeder und jede Einzelne für sich Wege findet, um mit der Lebensquelle in Verbindung zu bleiben, um nicht auszubrennen oder in den Wogen ringsumher zu versinken.

Der Alttestamentler Erich Zenger zitiert zu Anfang seines großen Kommentars zu den Psalmen ein chassidisches Sprichwort: „Verlasst euch nicht auf Wunder, sondern rezitiert Psalmen.“ Ja, es könnte helfen, jeden Tag mindestens einen Psalm zu rezitieren, zu meditieren, zu „essen“, wie Dorothee Sölle einmal gesagt hat, auf ihnen herum zu kauen, weil die Psalmen wie Brot sind.

„Verlasst euch nicht auf Wunder, sondern rezitiert Psalmen!“

Der seelendurstige Betende unseres Psalms schöpft neue Kraft für sich aus der Erinnerung an die Gottesdienste, die er einst im Haus Gottes feierte.

Als die Bibel von der Einweihung des Tempels unter Salomo erzählt (2. Chr 5,13), beschreibt sie wie alle Priester, ohne dass man auf die unterschiedlichen Abteilungen geachtet hätte, feierlich gekleidet, begleitet von ihren Musikinstrumenten: mit Zimbeln, Psaltern, Harfen und Trompeten, einen großen Lobgesang anstimmen. Und dann heißt es im Text, dass es war, als hörte man eine Stimme loben. Und dann wird weiter erzählt, wie das Haus Gottes mit einer Wolke, also der Herrlichkeit Gottes erfüllt wurde.

Ich denke, das ist genau das, worauf es auch heute bei uns ankommt: die Gegenwart Gottes herbei zu singen, herbei zu beten, herbei zu rezitieren.

„Beten heißt: Gott in die Welt zurückbringen…“ hat Abraham Jehoshua Heschel einmal gesagt: „…zumindest für einen Augenblick seine Herrschaft aufzurichten. Beten heißt, seine Gegenwart ausweiten, seinem Geist Raum zu schaffen in der Welt.“

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