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Seelenruhe (Ps 62)


Predigt von Studierendenpfarrer Dr. Conrad Krannich zum Universitätsgottesdienst am 22. Oktober 2023

Ein Bekannter postet seit einigen Tagen Namen. Jeden einzelnen von hunderten von Namen. Keiner soll vergessen sein von denen, die Terroristen am 7. Oktober abgeschlachtet haben. Auch nicht die Vermissten. Auch nicht Aviv, 2 Jahre, Ariel, 4 Jahre, Kfir, 9 Monate – entführt. Drei von 212.
Es waren schon viele Gesichter und Namen; es werden noch sehr, sehr viele kommen. Ich kommentiere jeden einzelnen Post mit einem Tränen-Smiley.
Ein „Tränen-Smiley“ – wie sich das anhört: ein Tränen-Lächler. In diesem Tränen-Smiley steckt meine ganze Hilflosigkeit, meine ganze Sprachlosigkeit. Der Tränen-Smiley ist das Bild für die Achterbahnfahrt meiner Seele in diesen Tagen: Ich könnte schreien. Im Alltag lässt sich das gut verdrängen. Aber bevor der Tag erwacht und wenn er sich dem Ende neigt – naja …
»Sei nur stille zu Gott, meine Seele« – das funktioniert gerade nicht. Die Seele will nicht stille sein. Keine Seelenruhe, nicht jetzt. Denn es passiert zu viel. Die Welt dreht sich so schnell. Und jeden Tag geschieht etwas anderes. Am 7. Oktober nun auch noch das.
»Die Seele bricht zusammen angesichts solcher Gräueltaten«, schreibt Yuval Noah Harari. »Der Krieg, den [die Hamas] begonnen hat, ist ein Krieg um die Seele […] Wir müssen diesen Krieg der Seelen gewinnen. Im Kampf gegen die Hamas muss Israel sein Territorium und seine Bürger verteidigen, aber wir müssen auch unsere Menschlichkeit verteidigen. […] Bis [die] Ziele [des Krieges] erreicht sind, wird der Kampf um den Erhalt unserer Menschlichkeit hart sein. Unsere Seele ist voll von Schmerz, und es bleibt kein Raum mehr, um das Leiden anderer anzuerkennen. Aber Außenstehende, [deren Seelen] nicht in einem Meer von Schmerz versinken, müssen sich bemühen, einen Raum des Friedens zu bewahren, damit wir eines Tages, wenn der Schmerz zu heilen beginnt, in diesem Raum leben können.«

Ja, fühle ich und krieche in Hararis Worte, um mich darin zu bergen.
Und dann staune ich – und vergesse darüber für einen Moment sogar meinen Seelenschmerz. Ich staune, wie selbst Yuval Noah Harari – der Autobiograph des Transhumanismus – vom „Krieg um die Seelen“, ja von der Seele spricht.
Die Seele – Verlegenheitsbegriff für etwas, das gar keinen Platz mehr hat im spätmodernen Denken, aber schon so aus der Mode gekommen ist, dass sich auch niemand mehr dran stört. Die Seele – ein Muskel, von dem ich gar nichts wusste, bevor er wehtat. Die Seele – Sprachraum für den Schmerz, der mich ganz erfasst.  Die Seele – Habitat der Menschlichkeit.
Wenn von der Seele die Rede ist, geht es um alles und noch mehr. Es geht offenbar auch um das, was sich sprachlich nicht mehr / noch nicht begreifen lässt, worüber ich aber nicht schweigen will. Als Seele bringen sich Mensch und Mensch zur Sprache, wenn es ums Ganze geht. Vor den Menschen. Vor Gott.

»… Sei nur stille zu Gott, meine Seele …«, betet Psalm 62.
Wie in den meisten Psalmen bleibt die konkrete Notsituation, die diese Worte gebiert, nur schemenhaft.
Da lügen sie und betrügen sie, heucheln Verbundenheit und stellen einem Menschen dann nach. Sie verlassen sich dabei auf Gewalt und ihren Reichtum. – Es könnten so viele sein. Es könnte an so vielen Orten sein. Verfolgt von seinen Peinigern flüchtet sich ein Mensch ins Asyl des Heiligtums. So vermuten es manche Ausleger:innen von Psalm 62. Oder flüchtet sich hier nur die Seele zu Gott? So verstehen es andere. Geht nicht das eine mit dem anderen einher? Ist es wichtig, hier eindeutig zu sein?
Fest steht – so der Psalm –: Gott gibt »Hoffnung«, Gott ist »Fels« und »Hilfe« und »Schutz«, auch am Ort seiner irdischen Gegenwart.
Und in diesem Schutz der gebeteten Nähe Gottes wandelt sich Psalm 62 von Vers zu Vers. Aus der Verzweiflung wird eine Klage wird ein Bekenntnis wird böse Polemik. Ein bisschen oberlehrerhaft bringt sich die überlieferte Weisheit der Generationen zur Sprache. Die Worte kulminieren in der großen Hoffnung auf Gerechtigkeit. Aber schon vom ersten Vers an wächst mit den Worten der Abstand zu Not und Tod und durch die Zeilen hindurch blinzelt mich das neue Leben an.
Psalm 62 verbindet vieles. So wie jede Menschseele vieles ist, nur eben nicht ruhig. Da ist Chaos, da ist Durcheinander. Es geht eben um alles, wenn es um alles geht. Es geht um den ganzen einen unteilbaren Menschen, von der Kehle bis zum Gewissen; die zerrissene, umkämpfte, in Verzweiflung ersaufende Menschenseele. Da ist alles, bloß keine Seelenruhe.
Deshalb schreiben Menschen Gebete wie Psalm 62. Dafür brauchen wir Gebete wie dieses. Weil die Seele nicht ruhig ist, sondern tobt.

Auch meine. Ist das ein Problem? Bin ich krank?, frage ich mich. Eine Freundin sagt: „Das macht uns doch zu Menschen, dass wir das Leid der anderen an uns heranlassen. Angst machen mir die, an denen das Leid der Welt seelenruhig abperlt wie an einer Teflon-Jacke”, sagt sie. Es gibt kein Recht auf ein von der Wirklichkeit unberührtes Leben.

Auch Amit und Amits Freunde feiern am 7. Oktober auf dem Trance-Festival nahe dem Kibbuz Re’im. Sie überleben den Überfall durch die Terroristen der Hamas; sie können dem Massaker entkommen. Dank Joseph.
Joseph bietet hin und wieder seine Fahrdienste an, und an jenem Morgen chauffiert er die Festival-Besucher nach Re’im und zurück. Joseph ist Beduine; er ist Araber. Ob ihn die Terroristen verschont hätten – keiner weiß es.
Joseph lässt es jedenfalls nicht drauf ankommen. Aber er nimmt auch nicht Reißaus. Als die Terroristen das Festivalgelände schon umstellt haben und das Morden beginnen, widersteht Joseph dem eigenen Fluchtreflex und bleibt. Er lädt so viele Menschen wie möglich in seinen Kleinbus. Und dann fährt er um sein Leben.
Dass er den Bus mit all den zum Teil schwer verletzten Menschen durch den Kugelhagel in die Sicherheit steuert – heldenhaft! Seine eigentliche Heldentat ist aber, dass er – als es drauf ankam – nur Menschen sieht, die jetzt vor Tod und Terror zu bewahren sind.
Es gibt eine Zukunft. Miteinander. Denn am Ende trennt uns nur eine einzige unüberbrückbare Grenze voneinander: Sie verläuft nicht zwischen Religionen und Ethnien, sondern zwischen denen, die den Tod bringen und denen die das Leben wollen. Letztere werden immer mehr sein.
Wenn ich daran denke, beginnt auch meine Seele, wenn auch nicht zu ruhen, so doch für einen Moment zu rasten.

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