Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Seelensorge - Lebenssorge (Mt 6,25-34)


Predigt von Prof. Dr. Friedemann Stengel zum Semestereröffnungsgottesdienst am 9. Oktober 2023

Liebe Universitätsgemeinde, liebe Markt- und Stadtgemeinde, liebe Gäste!

„Angst essen Seele auf“ hieß ein berühmter Film der 1970er von Rainer Werner Fassbinder über die Lebens- und Seelennöte von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern der 70er Jahre im alten Westen Deutschlands. „Angst essen Seele auf“. Es scheint: Seele ist essbar, ihr dürstet, sie hat Hunger, sie freut sich, sie singt, sie hat, sie ist betrübt bis in den Tod, sie wird von Engelein am letzten Tag in Abrahams Schoß getragen. Sie jauchzt und jubiliert, es wird für sie gesorgt, sie sorgt sich und hat Kummer. Mit der Seele hat es gar nicht so viel anderes auf sich als mit dem Herzen: Herzschmerz und Herzeleid, ein leichtes oder ein schweres Herz wie Seelenkummer oder Seelenfreude – beides bewegt uns. Und es bewegt sich in einem merkwürdigen Sprachraum, der tief in unserem Alltag verwurzelt ist, ja fast im Slang. Und doch vollkommen unbestimmt, wir wissen nicht genau, von was wir da reden, oder nur, wovon wir nicht reden: nämlich von dem Herzen, das Infarkte hat oder verschlossene Kranzgefäße, aber noch weniger von der Seele, von der früher gedacht wurde, sie wäre im Blut oder im Gehirn, in der Zirbeldrüse glandula pinealis, oder in der Schwiele corpus callosum, wo noch lange die Seele vermutet wurde. Und manche sogar glaubten, man würde sie eines Tages mit sehr guten Mikroskopen auch erblicken können. Das ist nicht eingetreten. Spürbar und messbar sind ihre Wirkungen, ihre Effekte. Erfahrbar ist die Seele eben als Sprache, als etwas, was man nähren und was ernähren kann, mit dem Soul, mit Soulfood, das man nicht anfassen kann wie Fingerfood, nicht verschlingen kann wie Fastfood, auf das man nicht einfach umsteigen kann wie auf Veggiefood.

Aber dennoch: Seele wird ernährt und nährt sich, wir kennen sie über Bedürfnisse und Gefühle, sie sorgt sich, grämt sich und wird umsorgt. Und sie ist irgendwie nicht greifbar, und dort, wo sie auftaucht, entzieht sie sich der Bestimmung. Schon als Wort. Und da bin ich beim Text, den ich etwas vorlaut mit „Seelensorge“ überschrieben habe. Es ist das sogenannte Sorgenevangelium, ein Text aus dem christlichen Wanderradikalismus, so können wir lesen. Sorgt Euch nicht, steht da: sorgt euch nicht um eure Psyche, was ihr essen und trinken werdet, und nicht um euren Soma, den Leib, womit ihr ihn kleiden werdet.

Schon Luther übersetzt Psyche mit Leben, und so machen es fast alle, auch in den anderen Sprachen. Diese Tendenz hat sich verstärkt. Oft wird in den Bibelübersetzungen „Leben“ statt Seele geschrieben. Das war schon Luther ein Anliegen. Mit der Seele wollte Luther wohl auch die Vorstellung von Unsterblichkeit, Fegefeuer und Ablasshandel loswerden – das hat sich verstärkt. Seele ist nicht nur in Kirche und Theologie fremd geworden, sondern seit dem späten 19. Jahrhundert auch in Wissenschaften und Universität. Seltsam unbestimmt ist Seele, auch wenn sie oft im Munde geführt wird und in vielen Liedern unserer Gesangbücher vorkommt, in Bachkantaten, Schützmotetten, in romantischen Sonetten, in so vielen Gedichten und Romanen und eben im Soul, im Modern Soul, Uptown Soul oder sogar im Psychedelic Soul. Auch in der Geschichte der Bibelübersetzungen ist das Verschwinden der Seele erkennbar – und ihre Ersetzung durch einen allgemeinen Begriff von Leben. Dem wollen wir in diesem Semester mit unserer Predigtreihe auf die Spur kommen. Denn ich finde, es ist ein Verlust.

Gerade unsere Stelle zeigt, dass es auch irgendwie unlogisch ist, Psyche oder lateinisch Anima durch Leben zu ersetzen. Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet und nicht um euren Leib, was ihr anziehen sollt. Leben und Leib – was wäre das für eine merkwürdige Gegenüberstellung! Leib und Seele – leuchtet das nicht viel mehr ein? Passt das nicht auch zu einer Seele, die sich ernähren will – mit Speise für den Leib und aber auch mit dem Brot des Lebens? Soulfood! Die Zeitgenossen sprachen nicht umsonst von der „Nährseele“, von der vegetativen Seele, genau dem Teil der Seele, die mit den Sinnen des Körpers verbunden ist und die natürlich auch für die Bedürfnisse des Körpers sorgt, für sein Leben und Überleben. Und unsere Stelle geht weiter: Ist nicht die Seele mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung?

Sorgt euch nicht um die materiellen Bedürfnisse – das hat auch zu einer Abwertung, ja Verachtung des Leibes geführt. Christinnen und Christen sollten sich nach innen, auf die Seele, orientieren und ungerechte Zustände ertragen – so die schwerwiegende Kritik an den Staatskirchen vor allem seit der sozialistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Ernst Bloch sah in diesem Sorgenevangelium einen Beweis für die ökonomische Naivität des Christentums. Und andere haben eingewandt, jeder verhungerte Spatz und jede abgemähte Wiesenblume straft Jesus Lügen. Von wegen: „sorgt euch nicht“! Das bleibt einem auch im Halse stecken, angesichts des unglaublichen Mangels in der Welt, in den aktuellen Katastrophen und Kriegen und auch auf unseren Straßen und in unserer Stadt. 33% der halleschen Haushalte haben weniger als 1500 Euro netto im Monat und im viel zitierten Landkreis Sonneberg leben 44% der Menschen vom Mindestlohn, die höchste Quote in Deutschland, so ähnlich auch sonst in Ostthüringen oder in MeckPom. Da muss geplant, gearbeitet und gesorgt werden um die Bedürfnisse des Leibes und wie man ihn kleiden soll. Wie kann man das dann verkünden und als frohe Botschaft verstehen, geradezu als wäre der nächste Tag ein Selbstläufer und der sorglose Spatz auf dem Dach ein lebendiger Zeuge dafür – wenn er nicht herunterfällt?! Das geflügelte Wort „Lebe jeden Tag so, als wäre es der letzte“ trifft sicher auf den geflügelten Spatz zu. Im Blick auf manche Menschen-Welt-Verhältnisse schillert er zwischen alternativloser Naivität und hilflosem Sarkasmus.

Mächtig sind die Deutungen der Bibeltexte, sie sind es gewesen und sie sind es. Mir scheint, es geht nicht um Essen, Trinken und Kleidung in diesem Text, nicht um das ernährte Leben und den bekleideten Leib. Das wäre eine schiefe Sicht auf Leibesbedürfnisse genauso wie umgekehrt eine Verkürzung unseres Menschseins auf unseren Leib, bei der wir die Seele verlieren würden.

Das Sorgenevangelium spricht nicht allgemein vom Leben, sondern von der Seele, um unser Wesen, unser Innerstes, was uns ausmacht, was von uns bleibt und was von uns war. Etwas, was ist und wirkt, aber nicht gesehen werden kann. Die Seele hinterlässt Spuren und wirft Schatten, auch wenn der Körper selbst nicht da ist oder sich aufzulösen beginnt, so wie die nur schemenhafte Figur auf den Flyern vor Ihnen, die Rieke Lüttmann geschaffen hat.

Ein beseelter Körper sind wir, eine lebendige Seele, so heißt es im Schöpfungsbericht (Gen 2,7).

Wir können Seele nicht greifen, aber sie ist da. Mir scheint, wir bewegen uns in einem lebenslangen Prozess auf sie zu und um sie herum, den Kern unserer Identität, der uns selbst nicht transparent ist, uns verborgen bleibt, so sehr wir um unsere Seele kreisen und in ihr rätseln und eben auch sorgen, was genau uns ausmacht, worin unser Weg und Ziel besteht.

In diesem manchmal verwirrenden, manchmal auch heiteren, staunensvollen Seelenweg ist es mir ein Trost, dass es Gott allein ist, der am Ende und schon immer um unser Seelenrätsel weiß. Nicht wir kennen uns völlig, er kennt uns. Ich finde es beruhigend und sogar froh machend, dass wir uns an dieser Stelle zurücklehnen und vertrauen dürfen.

Bis dahin geht es eben auch um Sorge, um Mühen und um Orientierung. Was uns sorgt, das treibt uns. Was wir lieben, das zieht und dirigiert uns, die mächtigsten Antriebsfedern, Taten, Worte, Pläne. Wir sitzen darin gefangen, manchmal zwingt es uns wie ein Korsett. Und was uns besorgt, das lieben wir: Gesundheit, Kinder, Geliebte, Eltern, Großeltern, unsere Freundinnen und Freunde. Da kann unsere Seele hängen, an dem, was sie liebt.

Nicht jede Liebe ist gut: Verfallenheit, Abhängigkeit, schmachtende Beziehungen, toxische Notwendigkeiten, die wir für unabdingbar halten, die uns nachts aufwachen lassen. Werden wir es schaffen? Leben wir, um uns zu beweisen? Wie oft stellen wir uns selbst über die Sache, um die es geht? Wovon lassen wir uns leiten?

Jesus warnt nicht vor dem Sinnlichen und Äußerlichen an sich, sondern dass unsere Seele sich zuerst am Vergänglichen, am Genießbaren, am Äußerlichen orientiert und das Ich vor alles andere stellt. Um unseres Seelenselbst willen rät Jesus zur Seelensorge: setzt nicht zuerst und vor allem, proton und primum, in den Mittelpunkt eurer Seele, was nötig, aber vergänglich, ja was noch nicht einmal da ist wie der morgige Tag. Das ist etwas Heidnisches, etwas Irreligiöses, nicht Gottesfürchtiges und Nichtliebendes, meint Jesus. Woran die Liebe hängt, das herrscht auch in den Seelen und führt auf einen Kurs. Den entscheiden wir.

Sucht zuerst nach dem Reich Gottes, seit Luther heißt es in den deutschen Übersetzungen: trachtet danach, und Matthäus ergänzt gegenüber Lukas, der die Stelle auch hat: sucht zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit! Das ist eben gerade nicht das Morgen, das zwangsläufig kommen wird, sondern Reich Gottes und Gerechtigkeit sind heute, absolut aktuelle Herausforderungen, vor denen wir stehen. Seelensorge ist Gerechtigkeitssorge. Das Reich Gottes ist hier kein Zukunftswerk und kein Fantasieprodukt, in das wir uns fliehen, um der Gegenwart zu entrinnen. Bei aller Hoffnung auf Weltlinderung und Weltheilung geht es um ein jetzt und hier vorhandenes und zugleich entstehendes, gerechtes Reich.

Dem gilt die Sorge unserer Seelen, aus Sorge um uns selbst, damit wir die Reihenfolge nicht vertauschen, so sehr die äußeren Bedürfnisse des Heute zwischen Last und Not berechtigt sind und so sehr wir dankbar sein oder eben auch darum bitten und dafür arbeiten dürfen, ein gesundes, gesättigtes Leben zu haben. Aber was uns selbst angeht, das soll unsere Seelen gerade nicht zuerst ausmachen, nicht vor allem leiten und nicht bestimmen. Hier, nicht im schlichten Ausstieg aus Besitz, Erwerb und Arbeit, liegt die Radikalität dieses Seelensorgeevangeliums, so sympathisch und bewundernswert alternative Lebensmodelle wirken – und tatsächlich sein können. Jesus rät zur Sorge um den inneren Seelenkern, den wir bestimmen mit Willensentscheidungen und Orientierungen. Sie hinterlassen nicht nur Spuren in der Seele, sondern machen sie aus. Wo Gerechtigkeit und Liebe unsere Seelen beherrschen, sind nicht wir selbst es, um die sich alles dreht. Aber wo es um Gottes Gerechtigkeit in Gottes Reich geht, sind wir mittendrin dabei.

Amen

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