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Weltgewinn und Seelenschaden (Mt 16,24-26)


Predigt von Dr. Felix Eiffler zum Buß- und Bettagsgottesdienst am 22. November 2023

Liebe Universitätsgemeinde,

Weltgewinn und Seelenschaden, Buß- und Bettag, das Ende der diesjährigen Friedensdekade 2023. Ich finde, das passt ganz gut zusammen. Weltgewinn und Seelenschaden, Umkehr und Gebet, Krieg und Frieden. All diese Themen wirken in diesen Tagen dringlich, ernst, existentiell. Mir persönlich geht es so, dass mir diese Themen viel näherkommen als früher. Der Krieg in der Ukraine, der Krieg im Nahen Osten, die gesellschaftlichen Herausforderungen von Antisemitismus und gesellschaftlicher Spaltung. Und die Krise, die vielleicht etwas in den Hintergrund getreten ist, aber doch die größte Herausforderung darstellt: die Klimakrise. Diese Woche hat das UN Umweltprogramm veröffentlicht, dass sich bis 2100 die globale Durchschnittstemperatur – im Vergleich zur vorindustriellen Zeit – um 2,9°C anheben wird, wenn wir so weiter machen wie bisher. 2023 war das wärmste Jahr seit 125.000 Jahren. Die CO2 Konzentration ist momentan so hoch wie zuletzt vor rund 3 Millionen Jahren.

Was macht das mit uns, diese Zahlen? 125.000 Jahre? 3 Millionen Jahre? Was löst es aus? Beschönigung oder Flucht? Angst und Sorgen? Wut und Frust? Resignation und Gleichgültigkeit? Wie gehen wir damit um? Wie geht ihr damit um? Ignorieren oder Verzweifeln? Analysieren und Engagieren? Beten und Hoffen? Nochmals anders gefragt: Was stärkt uns angesichts dieser Flut an Bedrohlichem? Woher nehmen wir Mut und Hoffnung? Woran orientieren wir uns? Oder um es musikalisch zu sagen: Was ist die Grundmelodie unseres Lebens?

Im Kontext unseres Predigttextes fragt Jesus seine Jünger: »Was denken die Leute eigentlich, wer ich bin?« Was denkt ihr, wer ich bin?« Petrus hat einen hellen Moment und sagt: »Du bist der Christus!« Und Jesus verrät seinen Freunden, was ihn erwartet, was geschehen wird, was geschehen muss. Und er stößt auf Missverständnis. Petrus sagt: »Gott bewahre!« Jesus versteht keinen Spaß und weist Petrus streng zurecht. Jesus wird seinen Weg nicht verlassen.
Und er geht noch weiter: »Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?« (Mt 16,24-26)
Jesus sagt: »Folge mir und lass los. Lass dich los. Verliere dich. Sei selbstlos.«

Er öffnet eine neue Perspektive: »Haltet eurer Leben fest und ihr verliert es. Lasst euer Leben los – lasst es für mich los – und ihr werdet es finden. Euer Leben ist doch soviel mehr und wertvoller als alles, was ihr je besitzen könnt. Euer Leben hier auf der Erde und euer Leben in Ewigkeit.«

Der Begriff der Seele, den Matthäus hier verwendet, zeigt dieses doppelte Verständnis von Leben: zeitlich und ewig. Der Schweizer Theologe Ulrich Luz entdeckt darin den Kontext des Gerichts. Er schreibt: »Erst der Weltenrichter wird in einem letzten Sinn Leben zusprechen oder wegnehmen.« (Luz: EKK 1/2, 493).

Jesus ruft in die Selbstverleugnung. Ulrich Luz schreibt: »Selbstverleugnung … heißt nicht Selbstmord, weil auch hier noch der Eigenwille des Menschen sich durchsetzen kann. Selbstverleugnung heißt nur Christus kennen, nicht mehr sich selbst, nur noch ihn sehen, der vorangeht, und nicht mehr den Weg, der uns zu schwer ist«. (AaO., 492) Luz entdeckt darin: »eine alternative, nicht ich-orientierte Lebensform, die durch die Bindung an Jesus, d.h. in der Nachfolge und in der durch ihn entstandenen Gemeinschaft der Nachfolgenden überhaupt erst möglich wird.« (AaO., 493)

Jesus ruft uns auf umzudenken bzw. neu zu denken. Damit sind wir bei Buße bzw. Umkehr als Sinnes- oder Herzensänderung. Heute am Buß- und Bettag ruft uns Christus durch diesen Text zur Umkehr. Heute gilt es neu: lebensfreundliche Dynamik von Selbstdistanz, Selbsterkenntnis und Neuorientierung zu entdecken, die den Kern des Bußgedankens ausmacht – so beschreibt es Heinrich Bedford-Strohm (Bedford-Strohm: Evang Theol 79. Jg., Heft 1, 12).

Jesus ruft zu einer neuen Perspektive: Nachfolge und Selbstlosigkeit. Selbstlosigkeit ist keine schlechte Haltung angesichts der Klimakrise.

Aber ich entdecke noch mehr. Ich entdecke Liebe – ein Sich-verschenken.
Der Alltagsphilosoph und Tatortreiniger Heiko Schotte, beschreibt es so: Gefragt, ob er Kinder hat, verneint er. Aber er stellt es sich so vor: Wenn er ein Kind hätte, wäre das wie eine Kiste in seinem Herzen, die voller Liebe und voller Energie wäre. Und diese Kiste kann nur von einem Kind aufgeschlossen werden. Ich glaube, da ist eine Kiste in uns, die nur Gott öffnen kann. Eine Kiste voller Liebe und Energie. Der Ruf in die Nachfolge Christi ist eine Einladung, diese Kiste öffnen zu lassen. Eine Einladung in ein Leben aus Glauben, ein Leben in Liebe und ein Leben voller Hoffnung. Ist die Einladung, eine neue Grundmelodie zu singen.

Jesus ruft in die Nachfolge und lädt uns ein: Ein Leben aus Glaube, in Liebe und voller Hoffnung. Der Glaube an Gottes Güte und Gottes Plan. Eine Liebe, die mich frei macht von mir selbst – frei für Gott und für andere. Eine Hoffnung, die keine Illusion ist und stärker als Verzweiflung. Hoffnung, die kein bloßer Optimismus ist.

Die französische Philosophieprofessorin Corine Pelluchon hat jüngst ein Buch geschrieben mit dem Titel: Die Durchquerung des Unmöglichen – Hoffnung in Zeiten der Klimakatastrophe (C.H.Beck 2023) Sie schreibt: »Hoffnung ist das Gegenteil von Optimismus. Letzterer resultiert oft aus mangelnder Ehrlichkeit und fehlendem Mut – er ist eine Form der Verleugnung, die den Ernst der Lage verschleiert oder glauben macht, man habe die Lösung für alle Probleme. Es gibt keine Hoffnung ohne die vorherige Erfahrung eines kompletten Horizontverlusts. Dieser Verlust ist, als würde am helllichten Tag die Nacht hereinbrechen, und er zwingt sowohl Individuen als auch Völker dazu, sich von ihren Illusionen zu verabschieden.« (AaO., 8-9)

Also Anders als Optimismus – so Pelluchon – setzt Hoffnung »die Auseinandersetzung mit Leid und Verzweiflung voraus.« (AaO., 9) Sie schreibt: »Hoffnung bedeutet, das Unmögliche zu durchqueren. Sie erscheint, wenn man sie nicht mehr erwartet, und entsteht nach der Erfahrung des Nichts.« (Ebd.) Das hat mit Selbstaufgabe zu tun. Sie schreibt weiter: »Echte Hoffnung setzt voraus, dass wir nichts für uns selbst verlangen. […] Um diese Dimension zu erreichen, muss man ein Heiliger oder knapp einem Unglück entronnen sein. Man muss alle persönlichen Erwartungen und allen Hochmut verloren sowie die Grenzen des eigenen Willens erfahren haben. Man muss erlebt haben, wie die eigene Intelligenz durch das Leid gedemütigt wurde, und verstehen, dass die Rettung darin besteht, sich selbst aufzugeben, ein lediges Gemüt zu werden, das nichts mehr für sich selbst verlangt und sich einfach nur für das Leben entscheidet. Man identifiziert sich also mit jener Energie, die bleibt, wenn nichts mehr bleibt. Sie genügt, um wiedergeboren zu werden. Hoffnung ist die Gewissheit, dass etwas bereits da ist.« (AaO., 15-16) Das ist Hoffnung: die Gewissheit, dass bereits etwas da ist. Hoffnung ist etwas, das meine Möglichkeiten weit übersteigt. Etwas, das ich vielleicht erst am Ende meiner Möglichkeiten entdecken kann. Das bedeutet auch: Hoffnung kann ich nicht machen. »Hoffnung ist«, laut Pelluchon, »die Reaktion auf Verzweiflung, […] ein Wagnis oder etwas, das sich wie die Gnade ereignet, von der die Christen sprechen.« (AaO., 18) Hoffnung ist eine Gnade – sie ist uns entzogen – sie muss sich ereignen.

Pelluchon fragt: »Doch wer kann heute schon sagen, dass er Hoffnung im Leben hat?« (AaO., 17) So möchte ich die Frage an Sie/ an dich weitergeben: Ist die Grundmelodie deines Lebens Hoffnung?

Corine Pelluchon bezieht sich auf biblische Texte und entdeckt dort, Zitat: »dass die Hoffnung nicht zu trennen ist von der Konfrontation mit Schmerz und Leid und dass sie sich auf eine Zukunft richtet, die nicht vollständig vorhersehbar ist, für die es aber Vorboten gibt. In gewisser Weise ist sie also schon da, als etwas unmittelbar Bevorstehendes.« (AaO., 12)

Kurz vor unserem Predigttext steht: »Seit der Zeit fing Jesus an, seinen Jüngern zu zeigen, dass er nach Jerusalem gehen und viel leiden müsse von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen.« (Mt 16,21) Jesus spricht von seiner Zukunft – dem unmittelbar Bevorstehendem – von dem ›Muss‹. Das, was jetzt geschehen muss. Jesus entzieht sich nicht der Konfrontation mit Schmerz und Leid. Jesus sieht das große Bild: Gottes Zukunft von Gottes Reich – und den Weg dorthin.

Jesus eröffnet eine göttliche Perspektive. Er stellt Dinge auf den Kopf. Eine Perspektive der Liebe, die das Wohl des anderen über das eigene stellt. Eine Liebe, die leidet für den anderen, die sich nicht entzieht. Eine Liebe, die aushält, die da ist und da bleibt.

Wir beschäftigen uns heute mit Weltgewinn und Seelenschaden. Für Jesus bedeutet das: er leidet Seelenschaden, um die Welt zu gewinnen. Er leidet an der Welt und für Welt. Er leidet an uns und für uns. Er schenkt sein Leben, damit wir in Freiheit und Liebe leben können. Jesus lässt sein Leben los, um uns festzuhalten. Er lebt unser Leben, stirbt unseren Tod.

Corine Pelluchon schreibt: »Die Hoffnung taucht unerwartet am Ende eines harten Kampfes auf, bei dem man dachte, man würde sterben. Sie bricht an, wie die Morgendämmerung, wenn das besiegte Individuum alles aufgibt, all seine Überzeugungen und Erwartungen. Dieses Loslassen ist eine Selbsthingabe, eine Selbstverleugnung oder Loslösung.« (AaO.,13)
Jesus geht darüber hinaus, denn er stirbt wirklich. Seine Selbsthingabe führt ihn bis in den Tod. Und darüber hinaus. Bis zum dritten Tage – dem allerersten Sonntag. Jesus tötet den Tod und schafft eine Hoffnung, die größer ist als wir, größer als unser Leben, größer als unser Tod. Eine Hoffnung, die Zeit und Ewigkeit verbindet. Eine Hoffnung, die letztlich weder am Wohlergehen der Welt noch an unserem Wohlergehen hängt. Christus setzt unserer Wirklichkeit einen komplett neuen Rahmen.
Corine Pelluchon schreibt: »Hoffnung ist überwundene Verzweiflung, sie ist eine Rückkehr zum Leben…die Gewissheit, dass […] [etwas geschieht], das dem Lauf der Dinge eine neue Wendung gibt.« (AaO., 12)
Ich glaube, dass es sehr schwer zu erfassen ist, wie grundlegend die Wendung ist, die Jesus den Dingen, der Welt und unserm Leben gibt. Wie anders die Melodie klingt, die er in die Welt hinein singt.

Nachfolge bedeutet, dem Ruf von Jesus folgen, ihm selbst folgen. Nachfolge bedeutet Umkehr, Umdenken. Die Welt aus Gottes Perspektive sehen. Nachfolge bedeutet vertrauen und lieben. Und Nachfolge schenkt Hoffnung.

Corine Pelluchon schreibt: »Hoffnung ist der Berührungspunkt zwischen dem Leben, das man an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit führt, und dem Geschehen, das sich tief im Inneren des Verhältnisses eines Subjekts zu sich selbst und zum Unendlichen entspinnt. Man kann dieses Unendliche Gott nennen…« (AaO., 17)

Ja, ich würde es Gott nennen. Und das ist mehr als eine Vermutung. Es ist die Entdeckung, dass Gott da ist – nahe und berührbar. Das eröffnet Glaube und die Gewissheit, dass Gott uns sein Gesicht gezeigt hat. Das schenkt Hoffnung.

Noch einmal Corine Pelluchon: »Die Hoffnung, dieser Berührungspunkt zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, erfordert, dass ich mich selbst erkenne und weiß, was ich in dieser Welt erreichen möchte. Sie setzt voraus, dass ich mit meinem Begehren in Einklang stehe. Und dies verlangt, dass meine partikulären Wünsche, auch die mächtigsten, aus einer tieferen und ursprünglicheren Quelle gespeist werden, aus jener Energie, die es ermöglicht, ein Selbst zu sein und zu existieren.« (Ebd.)

Glaube ist Verbundensein mit Gott als Quelle des Lebens. Gott, der mich ins Leben rief und mich mit Namen anspricht. Gott, der es mir ermöglicht, ich selbst zu sein und der mich dazu befähigt, »nicht mehr das ›Leben-retten-Wollen‹ – zum eigenen Lebensprinzip zu machen und den eigenen »Ichstandpunkt« loszulassen. (vgl. Luz, 491)

Glaube ist ein Leben aus Gottes Liebe. Es ist die Kiste, die Gott geöffnet hat. Energie, die meinem Leben Glaube, Liebe und Hoffnung einhaucht. Ein Fundament, das trägt, auch wenn alles andere ungewiss ist. Ein Leben, das unsere Seele sättigt, unsere Seele heil macht, ihr gerecht wird. Ein Leben, das nicht in der Welt aufgeht. Ein Leben, das ich finde, indem ich mich selbst loslasse, mich und meine Pläne aufgebe, mich ganz Jesus lasse, ihm vertraue, ihm folge.

Und das hat Folgen. Ich bin überzeugt, wenn wir das tun, werden wir mehr Leiden an der Welt und in der Welt. Wir werden noch wacher, noch sensibler. Wir werden auch der Konfrontation mit Schmerz und Leid nicht ausweichen. Und das ist eine Ressource, mit Leid und Ungerechtigkeit umzugehen – sie auszuhalten. Dies kann gelingen, wenn wir von der Zukunft her denken und leben. Wenn wir auch das sehen, was sein wird und sich bereits in der Gegenwart erfüllt. Jesus ist der Vorbote dieses Kommenden. (Vgl. Pelluchon, 12 und 17)

Der katholische Theologe Johann Baptist Metz schreibt: Hoffnung, die die Kirche Christi verkündet, ist »Hoffnung auf das Reich Gottes als Zukunft der Welt.« (Metz: Zur Theologie der Welt, 85) Kirche Christi heißt: Wir sind nicht allein. Christus ist mit uns und wir haben einander. Das ist eine Quelle für Mut und Engagement.

Ein letztes Mal Corine Pelluchon: »Wenn ich hoffe, bin ich nicht das isolierte Selbst, das versucht, dieses oder jenes zu erreichen, sondern nehme meinen Platz in einer Zeit und einem Raum ein, die größer, ja nahezu unbegrenzt sind.« (AaO., 17) Ich hoffe nicht allein. Wir hoffen nicht allein. Wir hoffen gemeinsam als Kirche, als Kyriake, als die zum Herrn Gehörigen.

Wir hoffen mit Gott, der einer von uns wurde. Wir hoffen mit Gott, der in uns wohnt.

Wir hoffen mit Gott, um dessen Kommen wir immer wieder bitten – so wie in diesem Lied, das wir jetzt singen.

Amen.

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